vonDresdennachIstanbul
3390 km
 
   

Der Reisebericht

Legende der Tagesübersichten:

# Tag der Tour

Wochentag und Datum

Start, Ziel und größere Durchfahrene Städte

XXX,X km =Tagesstrecke

X:XX h = Reine Fahrzeit

av. V = Durchschnittsgeschwindigkeit

↗ XX hm = kumulierte Höhenmeter bei Anstiegen

↘XX hm = kumulierte Höhenmeter bergab

av. P = durchschnittliche Trittleistung (sehr theoretisch, z.B. da Wind keine Rolle spielt)

Temperatur und Wetter

Summe des ausgegebenen Geldes

 

 

 

# 1

Freitag, 15.08.2008

Bannewitz – Dresden – Pirna – Königstein - Bad Schandau – Ostrau

60,5 km

3:23 h

av. V = 17,8 km/h

↗ 279 hm

↘307 hm

av. P = 80 W

12°C - 14°C, Regen

35,60 €

 

Unsere Radtour von Dresden nach Istanbul ging am Freitagnachmittag los. Konrad musste noch seine letzte Prüfung – welch Freude: es war Mathe - für das gerade vergangene Semester hinter sich bringen und auch ich war erst seit zwei Tagen in der Vorlesungs- und nun endlich auch prüfungsfreien Zeit des Sommers 2008 angekommen. Die letzten Tage des Lernens in der sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek hatte ich schon dieses aufgeregte Kribbeln im Bauch und das Zucken in den Beinen und konnte mich kaum noch auf Entscheidungslehre und Fertigungstechnik konzentrieren. Zu groß war die Vorfreude auf all das was da kommen könnte. Fast stündlich riefen wir uns am Vorabend der großen Tour an, damit wir auch wirklich nichts Wichtiges vergessen konnten. Wichtige Fragen wie die, ob wir einen Ultraleicht-Klapp-Hocker unbedingt mitnehmen müssen oder eben nicht, stellen sich uns ständig. Am Ende hatten wir dafür keinen Platz und die Frage löste sich von alleine auf. Wir hatten nur am Gepäckträger Packtaschen und übermäßig viel Kapazität boten diese einfach nicht. Da muss man dann eben abwägen, ob man wirklich einen Hocker oder lieber doch Wechselunterwäsche mitnehmen will. Auf der Strecke blieben so zum Beispiel auch die beiden Isomatten. Es ist ja Sommer und da ist es ja eher warm als kalt. Das vielleicht einzige Luxusgut im Gepäck für jeden war ein Buch. Nicht zwei, wie Konrad anfangs flehte, nur eins, denn sehr oft sieht man auf den Radwegen dieser Welt Radreisende die unendlich und übertrieben schwer beladen sind. wenn man zum Nordkapp fährt ist es vielleicht noch gerechtfertigt, nicht aber wenn man in Mittel- und Südeuropa unterwegs ist. Spätestens am ersten 10%-Berg, der mehr als nur eine kurze Rampe ist, wird man mir recht geben. Der Unterschied zwischen 25 und 40 Kilogramm ist da dann schon enorm und das Verlangen nach einem Hocker lässt spürbar nach. Zumal Berge selten allein in der Landschaft rumstehen, sondern oft nach dem Ersten dann noch weitere folgen und dann nervt jedes Kilo. Nicht umsonst ist im Radsport der Trend zu immer leichteren Werkstoffen seit Jahrzehnten erkennbar. Gepackt hatten wir so schon alles, die Reifen waren aufgepumpt, die Kette geölt, wir waren bereit, nur Konrad musste eben noch Mathematik II absolvieren und zu Ende schreiben.

Ich hole Konrad direkt von der Prüfung ab, anschließend essen wir noch schnell in der Mensa – natürlich Unmengen Nudeln – und hoffen dabei, dass der starke Regen endlich nachlassen würde. Wochenlang war Hochsommer in Deutschland gewesen, aber zum Tourstart schüttete es wie aus Eimern. Der Wetterbericht, den wir natürlich seit Tagen gespannt verfolgten, sagte für das gesamte Wochenende nichts als Regen voraus. Der Start würde sprichwörtlich ins Wasser fallen, musste aber dennoch stattfinden. Wir hatten nun nicht mal mehr die Wahl: Um Geld zu sparen, wurden schon vor Reisebeginn die Rückflugtickets des Billigfliegers nach Deutschland mit unseren Fahrrädern  gebucht. In nur 33 Tagen würde in Istanbul unsere Heimflugmaschine starten. In 33 Tagen müssen wir dort am Flughafen stehen. Zwischen uns liegen bis dahin mehr als 3000 Kilometer, zehn Staaten und gewiss viele wunderbare Erlebnisse, schöne Tage, aber auch ebenso Harte. Unter diesen zeitlichen Rahmenbedingungen wollen wir nicht schon am ersten Tag einen vollen Tag verlieren, alldieweil das Wetter auch morgen oder übermorgen nicht besser werden würde. So packen wir es an. So geht es dann endlich los.

Wie ziehen unsere Regenjacken an, verstauen alles wasserdicht und fahren zur Frauenkirche am Neumarkt in Dresden, unserem ersten kleinen Etappenziel etwa fünf Kilometer vom Startpunkt entfernt.

Es ist ein anderes Radfahren, wenn man die schweren Satteltaschen (20 kg / Bike) auf dem Gepäckträger hat und die Straßen schmierig-nass sind. Das Fahrrad ist viel träger und der Bremsweg deutlich länger. Im Wiegetritt schwankt der Hobel und man kommt sich vor als könne man gar nicht richtig Rad fahren. Es ist ungewöhnlich. Doch das Gefühl lässt schnell nach, im Oktober nach der Tour war dagegen Rennradfahren völlig befremdlich, es fehlte da dann das fette Gewicht im Heck als Stabilisator.

In Dresden war gerade wieder das alljährliche Stadtfest, also litten nicht nur wir unter dem Regenwetter, sondern auch alle Besucher der Stadt und ihrer Feierlichkeiten. Um ehrlich zu sein, sahen die noch betrübter aus und wunderten sich sicher über unsere strahlenden Gesichter, denn trotz der Umstände freuten wir uns auf die bevorstehende Reise.  An der neuerbauten Frauenkirche machten wir unser Startfoto und dann ging es los, den altbekannten und schon zig-mal befahrenen Elberadweg Richtung tschechischer Grenze. Wir sind es gemächlich angegangen, wollten locker in Tritt kommen und bitte nicht hinfallen. Einige andere Radreisende kamen uns entgegen, man grüßt sich nett. Wir fahren die Elbwiesen entlang, unter dem Blauen Wunder hindurch, am Dresdener Fernsehturm vorbei, wir passieren Pillnitz, seine Elbinsel und sein Schloss, radeln weiter vorbei an der Tetzelsäule, wo Luthers Gegenspieler einst seine praktischen Ablassbriefe für jedermann feil bot. "Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele  in den Himmel springt!" Mord soll dabei im Übrigen preiswerter gewesen sein, als zum Beispiel der Diebstahl von Gegenständen aus einer Kirche. Wir brauchen im Moment nichts zu bereuen und können ruhigen Gewissens weiterfahren.

Ab Pirna beginnt dann die imposante Sächsische Schweiz, das größte Klettergebiet Deutschlands. Vor vielen Millionen Jahren wurden aus den einst zusammenhängen Sandsteinplatten durch Verwitterung und Ausspülungen diese eigentümliche Landschaft geformt. Tafelberge wie der Lilienstein und spitze Felsnadeln wie die Barbarine entstanden.  Zum Teil wurde in Steinbrüchen aber leider auch Raubbau betrieben. Heute findet man Gesteine aus dem Elbsandsteingebirge zum Beispiel in der Bastei, im Dresdener Zwinger, der Frauenkirche, aber auch im Brandenburger Tor in Berlin.

Da es den ganzen Tag regnete und auch nicht aufhören wollte, war für uns an zelten nicht zudenken. Ausgemalt hatten wir uns das zwar idyllisch an der Elbe, aber das “idyllisch“ konnte heute Abend nicht eintreten. Ich wusste von einer Jugendherberge etwas abseits der Route auf einem Berg. Am Fuße der Festung Königstein setzten wir daher mit der Fähre über die Elbe und fuhren bis Bad Schandau, hier geht es einen etwas zwei Kilometer langen Berg hinauf nach Ostrau und da steht dann die ersehnte Jugendherberge. Der Herbergsvater meinte wir hätten großes Glück, es wäre noch etwas frei in seinem Haus. Hätte der uns echt wieder raus in das Mistwetter geschickt, wenn alle Zimmer belegt gewesen wären? Man könnte ja auch auf dem Fußboden im Speisesaal den Schlafsack ausrollen. Gehört habe ich das schon mal von anderen Radreisenden, die eben doch eiskalt abgewiesen worden sind. Was – wie ich finde und die Bemerkung sei erlaubt – eine riesengroße Sauerei ist, wenn ganze Rentnerreisegruppen die Jugendherbergen besetzten und man dann als Student abgewiesen wird und zurück in den Regen muss. Jedenfalls wir hatten heute im Naturpark Sächsische Schweiz ein Dach über dem Kopf und das war auch gut so.

Auf der Fähre war außer uns nur noch ein Ehepaar gewesen. Die Frau fragte wohin wir denn wollten, was das Ziel unserer Reise sei. Gespannt schaute sie dabei unsere prallen Gepäckträgertaschen an. Als wir dann Istanbul sagten, schaute sie nicht schlecht, ich kam mir indes wie ein Hochstapler vor. Es ist unvorstellbar weit weg. Vor allem wenn man gerade einmal 60 Kilometer absolviert hat und da schon fix und fertig ist. Aber das lag bestimmt nur an dem tristen Novemberwetter.

In unserem 9m²-Zimmerchen in der Jugendherberge breiteten wir unsere Sachen aus, damit sie am nächsten Tag trocken oder zumindest trockner als jetzt sind. Wir suchten ewig in allen Taschen bis wir das komplette Kochequipment, die Nudeln, das Waschzeug für den Abend und die Landkarte für morgen zusammen gefunden hatten.  Eingeschliffen waren diese Handgriffe bei weitem noch nicht.

Anschließend kochten wir mit dem Gaskocher auf einem kleinen Hocker unser Abendbrot und gingen zu Bett.

 

# 2

Samstag, 16.08.2008

Ostrau – Bad Schandau – Děčín Ústí nad Labem – Velke Zernoseky bei Litomerice

73,6 km

4:19 h

av.V = 17,0 km/h

↗ 246 hm

↘318 hm

av. P = 60 W

14°C - 16°C, starker Regen

4 € und 815 CZK (Kronen)

 

Die Nacht in der Jugendherberge war angenehm, das Frühstück anschließend lecker. Zwischen unserem Gebäude, in welchem wir geschlafen hatten und jenem wo wir uns zum Frühstück einzufinden hatten, lag ein Hof. So konnten wir da schon mal im vorbeigehen das Wetter abchecken, während die Fahrräder noch in einem kleinen Verschlag hinter dem Nebengebäude selig schlummerten: Es war bewölkt, aber trocken an diesem Morgen des zweiten Tages unserer Reise. Schnell missbrauchten wir die Föhne im Bad als Wäschetrockner, aber so richtig zufrieden stellend wurden die Sachen dennoch nicht trocken. Eigentlich war es auch egal: Denn als wir dann eine Stunde später unsere vaude-Taschen fertig gepackt und diese auf die Räder geschnallt hatten, begann es zu nieseln. Wir fuhren natürlich dennoch guter Dinge los, weil so ein leichter Niesel nicht weiter schlimm ist und wir ja Regenjacken dabei haben.

Den Berg von Ostrau nach Bad Schandau konnten wir heute als Abfahrt nehmen. Mir erschien er deutlich kürzer, als gestern der Anstieg in entgegengesetzte Richtung hinauf und so waren wir schnell wieder im Elbtal, auf dem Elberadweg und damit auf unserer Route. Nach wenigen Kilometern erreichen wir die deutsch-tschechische Grenze in Schmilka/Hrensko. Wie an jeder weiteren Grenze knipsten wir ein Foto zur Erinnerung. Der Nieselregen wurde jetzt stärker, aber im Gegensatz zu gestern konnte er uns nichts anhaben, da wir uns bereits mental damit abgefunden und unsere Erwartungen dementsprechend herabgesetzt hatten.

Auf einem so typischen Markt, wie er wohl hinter vielen tschechischen Grenzen zu finden ist, suchen wir für Konrad Tevas. Das sind praktische Kunststoff-Sandalen, damit er nicht wieder den ganzen Tag in seinen feuchten Schuhen verbringen muss. Wir fanden aber leider nichts Angemessenes, dafür wurden die Händler nervig aufdringlich und wollten mir allerhand Plunder andrehen. Dabei haben wir doch alles was wir brauchen. Und was wir nicht brauchen, schleppen wir auch ganz sicher nicht durch halb Europa mit. Dazu gehören eben auch Lederhandtaschen genau so wie ausgefallene Vogelhäuser.

Jetzt setzten wir erneut mit der Fähre über die Elbe, so dass wir nun auf der westlichen Flussseite bei Schöna und damit wieder zurück in Deutschland waren. Denn auf dieser Seite geht der wirklich sehr schöne Elbradweg durch die Sächsische bzw. Böhmische Schweiz entlang. So radeln wir ruhig dahin, kommen durch Děčín und viele kleine Dörfer. Es ist ein bedrückendes Gefühl, da hier sehr viele verwahrloste Häuser und Grundstücke in Verfall geraten. Es wirkt alles verlassen und zusätzlich vermüllt. Sicher liegt die niedergedrückte Stimmung zum Teil auch an dem traurigen Herbstwetter, aber auch Industrie und Fabriken geben ihren Teil kräftig dazu. Die Wände der Häuser sind durch die Abgase farblos bis dunkelgrau und im Rinnsteig fließt eine gelbe Flüssigkeit. Regenwasser sieht so eigentlich nicht aus. Tristes umgibt uns.

Hinter Děčín hängen wir uns für ein paar Kilometer in den Windschatten von drei älteren Radreisenden, bei weitem sind wir nicht die einzigen auf dieser Strecke. Doch schon bald nervt ihr gemächliches Tempo. Langsam fahren kann manchmal anstrengender sein, als etwas schneller im eigenen Rhythmus zufahren und so attackiert Konrad am erstbesten Hügel und wir düsen nun Richtung Ústí nad Labem. Da es schon gegen Mittag ist halten wir unter einem Pavillon und machen Mittagessen, natürlich gibt es Nudeln. Während wir da sitzen, kommen die Drei zurückgelassenen an uns vorbei, die nun auch nicht mehr geschlossen in einer Gruppe fahren. Wir hatten gut 15 Minuten auf sie herausgeholt. Tour-de-France-Held und Ausreißerkönig Jens Voigt wäre in diesem Moment sicher stolz auf uns.

Offensichtlich scheinen wir die ortsansässige Dorfjugend von ihrem Drogendealplätzchen fernzuhalten. Mit schön prollig wirkenden Bässen kommen ihre Karren angerollt, doch aussteigen will keiner. Nach einer Weile trollen sie sich wieder. Sie wissen wohl, dass wir hier noch eine Weile bleiben werden, denn es hat inzwischen angefangen wie aus Eimern zu schütten. Von Minute zu Minute wird der Regen nun stärker, auf dem Radweg bildet sich gar ein Bach. Selbst unter unserem Pavillon wird es ungemütlich, weil immer wieder Windböen Regenschwaden hereinpusten.  Das ganze hat nur einen einzigen Vorteil: Wir müssen nicht abwaschen. Die Teller und Töpfe stellen wir in den Regen, wo sie schnell voll laufen. Das Festgebrannte sollte die gelbe Chemikalie doch lösen können. Wir verweilen noch etwas. Doch dann wir müssen weiter, hier können wir nicht bleiben, denn bei so einem Regenguss baue ich kein Zelt auf, es muss wieder eine Unterkunft her, die es in diesem kleinen Ort aber nicht gibt.

Mit eingezogenen Köpfen rollen wir nach Ústí. Es ist eigentlich genau das Wetter, bei  dem man zuhause bleibt, die Heizung aufdreht, einen warmen Pullover überzieht, ein paar Kerzen anzündet, sich einen Kakao kocht und ein Buch ließt oder fernschaut. Vielleicht genießt man das monotone Klopfen der Regentropfen an der Fensterscheibe und isst dabei das erste Stück Stollen des Jahres, der eigentlich ja für die Adventszeit gedacht war. Wir nicht. Wir wollen nach Istanbul. Und das allein muss zur Motivation hier und jetzt ausreichen. Und es reicht. In Ústí kaufen wir Proviant ein, doch so richtig können wir den Aufenthalt im trockenen und warmen Supermarkt nicht genießen. Wir haben Angst um unsere beladenen Fahrräder, Digital-Kamera, Geld und Pässe haben wir zwar bei uns, aber es gäbe noch vieles andere was ein Langfinger an sich nehmen könnte und womit er unsere Tour zerstören würde.

Wir irren noch eine Weile durch Ústí und finden dann wieder zurückauf den Elberadweg, der aber kaum noch asphaltiert ist und immer schlechter wird. Am östlichen Elbufer thront nun die Festung Schreckenstein auf einem einhundert Meter  hohen Ziegelsteinfelsen über uns. Sie verschwindet fast vollständig in den dunklen und tiefsitzenden Wolkenschwaden. Die nächsten Kilometer fahren wir nur noch durch Schlamm und der Dreck spritz bis ins Gesicht. Wir sahen aus wie Schweine die sich gerade gesuhlt haben. Wie sollen wir so nur eine Unterkunft finden? Wer lässt uns denn so in sein Haus? Beim ersten Versuch wurden wir dann tatsächlich mit einem Kopfschütteln weggeschickt, aber dafür kannten wir nun das tschechische Wort für Unterkunft, welches an dem Haus stand: “Ubytování“. Also zumindest können wir es lesen und wieder erkennen. Eine regenreiche Weile später fanden wir erneut eine Ubytování bei einer älteren Frau. Diese schien auch nicht allzu sehr begeistert zu sein und ließ uns erst in ihr Biedermeierhaus, nachdem wir uns vor der Tür mit einer Gießkanne den Schmutz des Tages abgeduscht hatten. Egal egal egal. Alles ist mir egal. Hauptsache wir konnten ins trockene. So gewaschen war die Frau dann zufrieden mit uns und wir bekamen sogar noch niedliche Stoffpantoffeln von ihr. Anschließend erklärte sie uns, damit wir auch alles finden, das ganze Haus ausführlich auf Tschechisch. Wir hatten unser Zimmer und nebenan war ein Wohnzimmer, welches aber auch von zwei anderen Gästen mit genutzt wurde. Bad, Toilette und die kleine Kochkammer teilten wir uns ebenfalls mit ihnen.

Auf den Holzdielen in unserem Zimmer breiteten wir unsere nassen Sachen aus, schauten ein wenig Olympia im schwarz-weiß-Griesel-Fernseher mit tschechischem Kommentar und  warteten auf den Wetterbericht, der uns dann ein schönes Zeichen sandte: Eine große lachende Sonne über Prag.

Zum Abend kochten wir uns wieder Nudeln und aßen sie in dem streng-katholisch eingerichteten Wohnzimmer. Von der Wand schaute uns dabei das vielleicht 50 Jahre alte Hochzeitsfoto der Frau des Hauses zu.

 

# 3

Sonntag, 17.08.2008

Velke Zernoseky Litomerice Theresienstadt Melnik   Kralupy - Prag

121,1 km

6:52 h

av. V = 17,5 km/h

↗ 501 hm

↘478 hm

av. P = 60 W

18°C - 30°C, Sommer-Sonnenschein

567 CZK (Kronen)

 

Es war kaum zu glauben, aber als wir das Häuschen der guten alten Frau nach einem liebevoll angerichteten Frühstück verlassen hatten, schien die Sonne und es war keine Wolke am blauen Sommerhimmel zu erkennen. Nix mit „Regen ist Wetter heute“, was uns die Frau am Morgen noch drohend prophezeit hatte. Der Wetterbericht von Česká Televize hingegen hatte Recht und das gefiel uns sehr. Dagegen stehen unsere Fahrräder im Glanz des lichten Tages unter einer dicken Dreckkruste ganz traurig im Schuppen. Während wir uns am Abend geduscht hatten um sauber zu Bett zu gehen, hat sich auf den Ketten der Fahrräder auch noch eine feine Rostschicht gebildet. Naja eine kurze Katzenwäsche muss für sie heute Morgen reichen, wir wollen den herrlichen Tag nutzen und schnell weiter fahren.

Die erste Stadt die wir nach ein paar Minuten erreichten war Litomerice. Ein Mann der uns am gestrigen Abend einmal den Weg in diese Richtung wies, sprach es „Light-matic“ (engl.) aus.  Litomerice passierten wir gerade,  als die Kirchglocken zum Sonntags-Gottesdienst riefen und die Sonne angenehm auf den Rücken schien. So lieben wir das Rad fahren. Die Stadt wirkt friedlich und gemütlich. Tag Drei der Tour begann äußerst angenehm. Wenig später wird es dann nachdenklich, wir kommen Terezin, was auch als Theresienstadt weithin bekannt ist. Einst war es eine Garnison und ein Gefängnis für politische Gegner der Habsburger Monarchie. Ab 1941 wurde es ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung. Bis zum Ende des Krieges wurden hierher 150.000 Menschen, hauptsächlich aus Böhmen und Mähren, von den Nazis deportiert.

Jetzt beschlossen wir den Elberadweg zu verlassen. Ein Radweg nur für Radfahrer war es sowieso schon lange nicht mehr, eher ein Netz von kleinen Straßen die kreuz und quer über Umwege zu jeder noch so belanglosen Sehenswürdigkeit führen. Ein Schild lockte uns mit 58 Kilometer bis Prag von diesem Gewusel weg auf eine normale Überlandstraße.  Auf dem Radweg wäre es fast das Doppelte an Wegstrecke gewesen. Irgendwie klappte das dann aber auch nicht so Recht, denn 50 Kilometer später waren wir erst in Melnik auf etwa der halben Strecke bis Prag. Hier verabschiedeten wir die Elbe und begrüßten die hier mündende Moldau  als unsere neue Gastgerberin.

Wir folgten nun dem sogenannten Moldau-“Radweg“ oder seinen Schildern, was großer Mist war, da wir gleich zu Beginn für eine Stunde durch verschlammte Waldwege gelotst wurden. An ein schnelles vorwärtskommen war nicht mehr zu denken und so sank die Durchschnittsgeschwindigkeit  auf 15 km/h.  „Plötzlich wurde aus Gleit- und Rollreibung Haftreibung, die du mit deiner aus Muskelkraft umgewandelten Vortriebskraft nicht mehr überwinden konntest. Da kam dann deine potentielle Energie, weil du dich über  dem Erd- oder Schlammboden befandest, zum Tragen und du  wurdest schlagartig mit geschätzten 9,81 m/s² Richtung Erdmittelpunkt beschleunigt und kamst erst wieder in einer tiefen Pfütze zum Stillstand.“, so erklärte Konrad mit seinen sechs Semester Physik Studium meinen Sturz in eine Pfütze. Klingt witzig, mich hat es aber „übelst angekotzt“ (nochmal Zitat Konrad).

Zwischen Melnik und Kralupy erwies sich dann unser bikeline-Radreiseführer für den Moldauradweg als vollkommen falsch recherchiert. So fuhren wir komplett sinnlos auf einer stark befahrenen Straße einen Berg hinauf, inhalierten dabei schön und tief die Skoda-Abgase, nur um dann den Berg 20 Grad weiter links wieder runterzufahren. Was ist das für eine Philosophie in den Radführer? Mal quält man sich langsam wie eine Schnecke einen Schlammweg entlang, das andere Mal – nur wenige Kilometer später -  ist man zwischen Lärmschutzwänden auf einer Transitstraße gefangen. An einer Tankstelle tanken wir erstmal Pepsi und kaufen zudem eine ordentliche Karte von dieser Gegend. Weiter ging es dann direkt an der Moldau auf einem sehr guten Radweg, doch als dieser jäh endet, müssen wir das Moldautal verlassen und im schattigen Wald bis hoch über die Moldau fahren. Hinauf ging es ganz gut, die Steigung war moderat und der ruhige Wald eine angenehme Abwechslung, auf der anderen Seite hinab war es dann eher etwas für Downhill-Mountainbiker. Von hier bis Prag konnten wir nun wieder direkt an der Moldau fahren.

Die ruhige Idylle am Fluss, die langsam untergehende Sonne, die Nähe zu Prag, all das setzte in uns neue Energie frei und so vergaßen wir die Strapazen der letzten drei Tage und flogen nach Prag hinein. Prag selber hat erstaunlich gute Radwege in erschreckend runtergekommenen Gebieten. Für Goethe war Prag „der schönste Stein in den Steinkronen der Welt“ und für das Stadt- und Touristenzentrum gilt das freilich noch immer oder mehr den je, die Karlsbrücke, die Prager Burg und der Markt - aber davor und danach kam wieder das bedrückende Gefühl hoch, was ein immer wieder in Tschechien einholt. Bestimmt würde es Dresden und der gesamten sächsischen Region nicht besser gehen, hätte es den Niedergang des SED-Staates, die neue starke Währung und später die Einführung des Soli-Beitrages nicht gegeben. Es brauchte die neuen und nötigen Rahmenbedingungen der Politik damit Investitionen getätigt werden konnten und so Geld in das Land floss. Jetzt kann man mit Fug und Recht Stolz auf Dresden sein. Keinen Zweifel habe ich daran, dass die Europäische Union mit ihrem gemeinsamen und wahrlich grenzenlosen Wirtschaftsraum auch in Tschechien herrliche Früchte tragen wird. Nicht jeder für sich, sondern alle gemeinsam. Auch in Krisenzeiten, sollte so die Devise lauten. 

Nach einer kurzen Stadtrundfahrt schlagen wir südlich von Prag zum ersten Mal auf der Tour und direkt an der Moldau unser Zelt auf, genießen den Abend und die Nudeln. Nachdem diese alle waren, fühlte ich mich noch immer hungrig beziehungsweise unterzuckert, so dass ich unseren kleinen Honigproviant pur und ohne Brot zusätzlich aufessen musste. Ich war, im Gegensatz zu Konrad, total platt. Laut Plan sollten wir  Prag nach 205 Kilometer erreichen, nun waren es  250 Kilometer von Dresden bis hierher. Wir sind also 45 Kilometer zwischen Dresden und „Goethes Lieblingsstadt“ zu umständlich gefahren.  Zum einen wegen Verfahrerei, zum anderen aber auch um die Unterkünfte zu erreichen oder Einkaufsmöglichkeiten zu finden.

Am späten Abend gab es ein Feuerwerk über der Stadt.

 

# 4

Montag, 18.08.2008

Prag – Zvole – Štěchovice – Kamyk – Orlik Stausee

95,5 km

6:00 h

av. V = 15,8 km/h

↗ 1217 hm

↘1028 hm

av. P = 80 W

19°C - 30°C, Sommer-Sonnenschein

798 CZK (Kronen)

 

Die Nacht war kalt und wir beide haben in unseren Schlafsäcken jede Stunde davon bitterlich gefroren. Es ist August und da der August bekanntlich zu den Sommermonaten gehört, hatte ich den teuren Daunenschlafsack daheimgelassen und an seiner Stelle das leichte Kunstfasermodell gewählt. Vor allem, weil es mich nicht stören würde, wenn dieser nach der Reise nicht mehr zu gebrauchen wäre. Vor drei Jahren – auf unserer Radtour an die französische Atlantikküste – haben nach und nach Unmengen Sand, Cola, Rotwein und sogar Jim Bean ihren Weg in das Futter gefunden. Am Ende wurde aus dem einstigen Schlafsack (französisch: Sack du Schlaf) der sogenannter Sack du Dreck. Dieses Schicksal wollte ich meinem Daunenschlafsack ersparen und deswegen bibberte ich bis zu den ersten Sonnenstrahlen in meinem ehemaligen Sack du Dreck, welcher aber inzwischen gereinigt wurde und daher seinen Namen nicht länger tragen darf. Konrads Schlafsack sah schon zusammengepackt so winzig aus, dass ihm jeglichen Dämmmaterial zu fehlen schien und er ebenfalls nicht wärmen konnte. Zwei Fehler kamen in dieser Nacht an der Moldau zusammen: Die dünnen Schlafsäcke und der Verzicht auf Isomatten, welche einfach keinen Platz mehr in unserem Gepäck hatten. Zum Glück geht’s gen Süden.

Nach ungefähr einer Stunde hatten wir unseren gesamten Hofstaat in die Taschen gepackt und konnten losfahren. Kurz mussten wir noch warten, um die Zeche für die Nacht zu begleichen, denn man hatte als Pfand dafür meinen Personalausweis  einbehalten.  Nachdem wir die 400 tschechischen Kronen bezahlt hatten (15€!!!) drückte man mir freundlich den Personalausweis unserer Zeltnachbarn in die Hand, welcher mir aber erstaunlicher Weise nicht in einem einzigen Aussehensmerkmal glich. Sehen für die Prager alle Deutschen gleich aus, so wie es zum Beispiel für den Europäer die Chinesen tun? Rennt jetzt ein rothaariger Typ mit meinem Ausweis durch Böhmen? Cool bleiben! Nach einer kurzen Suche in Ordnern und Kisten findet man dann auch endlich den Ausweis, der mein Bild und meinen Namen trägt. Ich bin froh. Ich habe sowieso immer ein schlechtes Gefühl, wenn ich sowas aus der Hand geben muss. In Zukunft ist es vielleicht kein Fehler ein oder zwei Ersatzexemplare bei sich zu führen. Den Reisepass würde ich sowieso niemals aus den Augen lassen.

Die ganze Nacht konnten wir den Verkehrslärm der stark befahrenen Straße auf der anderen, der östlichen Moldauseite, hören und so entschließen wir uns weiterhin diesseits zu bleiben und so gezwungener Maßen dem bikeline-Ding Folge zu leisten.

Nach 13 Kilometer, die wir ein gutes Stück im Windschatten anderer Radreisender fuhren (Hey, wir hatten noch nichts im Magen!) fanden wir in dem kleinen Ort Vrané nad Vltavou einen Supermarkt mit dem biblischen Namen Eden. Wir kauften da die üblichen Energielieferanten: Cola, Rosinenzopf und Marmelade für jetzt und Nudeln für später. In einem kleinen Park frühstückten wir auf dem Gras und beobachten drei kleine Kinder die an einem Stamm in einen Nadelbaum hineinkletterten. Ratz-fatz ging das und dann tobten sie da oben eine Weile. Wir sahen nichts, hörten nur ihre fröhlichen Stimmen, die in etwas zeigten wie hoch sie waren. Ein wenig erstaunt gucken wir schließlich, als dann vier statt drei Kinder den Baum wieder runterkamen. Wo kam das eine her? Oder war das die ganze Zeit schon da oben gewesen und hatte uns heimlich beobachtet?

Direkt nach dem Frühstück wurde es knackig: Auf vier Kilometer Länge überwanden wir 200 Höhenmeter bis nach Zvole. Ich weiß nicht was den Autor des bikeline-Radreiseführers geritten hat diesem Berg nur ein einziges Anstiegssymbol in der Karte zu geben und dem Berg vor Prag gestern fünf Stück. Dieser besagte Berg gestern war ein Kilometer kürzer und erreichte nur 100 Meter Höhenunterschied. In allen Kriterien in welche man einen Berg einteilen kann (Länge, Höhe und Anstiegswinkel) war der heutige Berg anspruchsvoller. Trotzdem gab es nur ein Anstiegssymbol. Überhaupt: Ein Buch zu verkaufen, das den Namen Moldauradweg trägt, ist eine fiese Täuschung. Es gibt keinen Radweg an der Moldau. Es gibt nicht mal durchgängige Straßen an ihr. Man sieht die Moldau kaum, nur dann wenn ein Städtchen an ihr liegt, verlässt man kurz den Bergwald und kommt ins Flusstal hinab. Danach geht’s sofort wieder weg vom Fluss irgendwelche x-beliebigen Straßen durchs Hinterland entlang. Der Begriff “Moldau-Radweg“ suggeriert dem geneigten Radtouristen etwas anderes, fast gegenteiliges. Aber was rege ich mich auf.

Oben angekommen irrten wir eine Weile durchs Hochland, fuhren dann wieder runter ins Tal, dann wieder hoch. Für fünf Kilometer Luftlinie brauchten wir anderthalb Stunden. Von nun an misstrauten wir allen Empfehlungen des Radreiseführers.

Wir fuhren noch einmal auf einer Dorfstraße hinab an den Fluss und folgen nun der großen Straße von Štěchovice bis Kamyk, welche wir die ganze letzte Nacht ihres Verkehres wegen gehört hatten, die aber nun kaum noch befahren wurde. Man hat beim Tourenfahren sowieso immer die Qual der Wahl:  Schöne, ruhige, landschaftlich reizvolle Strecken auf denen man aber leider nur selten direkt zum Ziel kommt oder eben die größeren Überlandstraßen, welche direkt von Stadt zu Stadt auf dem schnellstem Wege führen. Man fährt recht eintönig dahin und manchmal ist der Verkehr belastend, zumal die Tschechen sehr rücksichtslos fahren.

Direkt auf der Überlandstraße 102 hinter Štěchovice steht wieder ein fetter Berg an. Eine Stunde nur Berg an. Eine Stunde Qual. Kein Anstiegssymbol im Radreiseführer… Oben angekommen kaufen wir entnervt in einer Tankstelle einen “Atlas s Cyklotrasami“, eine Radatlas für das gesamte Land und WD40-Öl um den Leichtlauf der Kette etwas nachzuhelfen. Hier treffen wir unsere Zeltnachbarn von heute Morgen wieder, spätestens jetzt hätten wir die Ausweise tauschen können. Nebenbei ist es auch eine letzte bezeichnende Kritik am bikeline-Reiseführer, dass sie uns niemals eingeholt, dennoch aber irgendwo überholt haben.

Geplant war das Zelten für die heutige Nacht in Kamyk. Dort finden wir allerdings keinen Zeltplatz. Nach wie vor können wir nur ein Wort auf Tschechisch und dieses eine Wort auch nur lesen und nicht aussprechen. An Informationen von Einheimischen kann man so leider nur sehr spärlich gelangen und so suchen wir ziel- und planlos vor uns hin. Es wurde langsam Abend. Der ganze Tag war bisher eine Enttäuschung. Wir haben nur mit der Wegsuche verbracht, dazu kamen wir kaum vorwärts, weil das Höhenprofil gemein und kräftezehrend war und die Straßen oft nur über gewaltige Umwege ihr Ziel fanden. Für den heutigen Tag wäre ein Navigationsgerät nicht schlecht gewesen, aber darauf zu verzichten, empfinden wir beide nicht als Fehler, sondern als prinzipiell richtig. Denn schließlich versuchen wir unser Ziel aus eigener Kraft zu erreichen und dazu gehört eben auch das Navigieren nur mit Karte. Auch wenn das heute ziemlich in die Hose ging und dadurch sehr frustrierend war.

Ich wollte den Tag am liebsten sofort beenden und direkt an der Moldau wild campen, eine Lichtung direkt am Wasser versprach zwar keine Dusche, dafür aber einen ruhigen und idyllischen Abend an der Moldau. Doch Konrad zog es weiter zum Orlik-Stausee und als uns dann im Wald der erste Mensch begegnete der Englisch und zu allem Überfluss auch noch Deutsch sprach, wussten wir, dass wir dort auch hin müssen, denn dort gab es einen richtigen Zeltplatz mit allem drum und dran und hier eben nur Wald und Moldau und Campingverbot. Eine nützliche Information gab man uns noch mit auf den Weg: In Kamyk wurde Mission Impossible 2 mit Tom Cruise gedreht. Gut zu wissen.

Ein Berg noch und wir kamen am größten Stausee Tschechiens  an. Der letzte Ritt hatte sich wirklich gelohnt. Wir fanden eine traumhaft schöne Landschaft vor und der Zeltplatz kostete weniger als die Hälfte von dem in Prag. Die Sonne geht hinter den bewaldeten Hügeln unter. Manchmal dachte man heute, vom Profil und von der Landschaft her, dass man im Schwarzwald wäre. Hier am See könnte man wunderbar ein paar Tage Badeurlaub machen oder mit dem Rennrad von hier aus Touren unternehmen.

Über 1200 Höhenmeter in Summe heute können sich echt sehen lassen, oft möchte ich solche Tagesetappen aber nicht mehr haben, schließlich schleppen wir noch die ganzen Sachen wie Klamotten, Kochzeug, Essen, Gaskartuschen, Zelt, Schlafsäcke, Karten, Reiseführer, ausreichend Wasser und so weiter mit uns rum, was ganz schön schlaucht. Bevor das letzte Tageslicht verschwindet werden die Fahrräder wieder auf Vordermann gebracht, damit wir morgen besser vorwärts kommen als heute. Ich habe leise Zweifel, dass wir es mit der bisherigen Effektivität nicht in der vorgegebenen Zeit bis in Türkei schaffen. 350 Kilometer in vier Tagen sind enttäuschend und demotivierend obendrein.

Vor dem Schlafen gönnen wir uns in der Gaststätte des Zeltplatzes ein Bier und erfahren, dass man mit dem Auto von Dresden ungefähr vier Stunden bis zum Orlik-Stausee braucht.

 

# 5

Dienstag, 19.08.2008

Orlik Stausee – Milevesko - Týn nad Vltavou - Budweis

97,1 km

5:36 h

av. V = 17,3 km/h

↗ 798 hm

↘745 hm

av. P = 60 W

16°C - 32°C, Sommer-Sonnenschein

522 CZK (Kronen)

 

Der Tag hatte eigentlich nur ein Ziel: Vorwärtskommen, in den letzten Tagen hatten wir ja viel Zeit verloren. 

Vom nördlichen Rand des Orlik-Stausees fahren wir nun erstmal ein ganzes Stück weg von der Moldau. Die Straßen sind ruhig und kaum befahren und so kann man Südböhmen genießen, wenn man die Luft dafür hat. Es ist angenehm, so von Dorf zu Dorf zu fahren, ohne nennenswerten Straßenverkehr. In einem kleinen Tante-Emma-Laden ohne Selbstbedienung kaufen wir Cola,  um Energie für den Tag zu haben. Gestern hatten wir keine Mittagessenspause gemacht, da wir beide nie ein richtiges Hungergefühl bekamen, CocaCola und Pepsi sei dank und das obwohl der Tag anstrengender als alles davor gewesene war. Heute machten wir es wieder so. Die Verkäuferin in dem Tante-Emma-Laden schimpft mir etwas auf Tschechisch zu, weil ich die Kulisse (Frau hinter großer Waage bedient die Kunden und holt jedes Produkt einzeln aus dem einen Regal) photographiert hatte. 

So richtig kommen wir nicht vorwärts heute.  Wir standen spät auf und brauchten ewig zum einpacken.  Konrad hatte dann auch noch ein komisches Geräusch am hinteren Ritzelblock…  Dann suchten wir Frühstück, fanden den Tante-Emma-Laden -aber nichts zu essen. Wir verfuhren uns, fanden dadurch einen kleinen Supermarkt, genossen das Frühstück und die Sonne: 12 Uhr hatten wir erst 20 km weg.

Zum Glück hatte Konrad heute einen echt guten Tag und so fuhren wir dann doch recht zielstrebig über Milevsko. Hier machten wir noch kurz einen Stop,  um Sonnencreme und Gas zukaufen. Letzteres fanden wir zwar nicht, aber wir hatten auch noch genug mit. Weiter ging es via  Bernartice bis nach Týn n Vlt die Straße 105 entlang. Zwischendurch machten wir Pause (ja schon wieder, aber es wurde immer heißer.) an einer funktionierenden Wasserpumpe und erfrischten uns.

In Týn, an dem Zusammenfluss von Moldau und Lausnitz, hatten wir die ersten 24 Stunden auf dem Fahrradcomputer weg, also 24 Fahrradstunden waren wir von Dresden entfernt. Früher war Týn mal ein Zentrum des Handels mit Salz gewesen, welches aus dem Alpen hier her kam und dann auf Flößen bis nach Prag gebracht wurde. Mit der Erfindung der Eisenbahn starb diese Tradition aber aus.

Nun wollten wir wieder direkt an der Moldau weiterradeln, doch leider war nach ein paar Kilometern Schluss.  Die Brücke die uns über den Fluss helfen sollte, wurde dank EU-Mitteln gerade neu gebaut. Selbst wenn wir die Verbotsschilder missachtet hätten und auf die Brücke gefahren wären, wären wir doch dort dann im frischem Estrich hängen geblieben. Wir hatten uns vergräppelt!  Vergräpellt ? Ja! Vergräppelt!  Eine Wortneuschöpfung unsererseits,  die nun schon seit 3 Jahren Bestand hat!  Damals radelten wir von Hamburg nach San Sebastian und schon kurz hinter der Hansestadt fuhren wir in den kleinen Ort Gräppel, in welchen nur eine Straße hineinführte, ein Sackgassenort sozusagen. Also mussten wir wieder umkehren und haargenau denselben Weg zurückfahren. Seither heißt dieses Ärgernis „vergräppeln“. Ich hoffe,  dass dieses Wort irgendwann mal den Weg in den Duden schaffen wird, mein Microsoft Word kennt es schon.

Eine Stunde später waren wir wieder in Týn und wieder auf der Straße 105, die nun aber wieder stärker befahren war. Ein langen zähen Berg fuhren wir in der knalligen Sonne hoch, die Fahrradreifen machten auf dem Asphalt Schmatz-Geräusche. Hier ungefähr verbrannten wir uns die Haut trotz Sonnencreme, die durch den Schweiß vermutlich immer wieder abgespült wird.

8km hinter Týn war der Berg endlich zu Ende und wir bekamen direkt neben uns das bedrohlich wirkende Kernkraftwerk Temelin zusehen. Zwar sind nur 2 der 4 Reaktorblöcke in Betrieb, aber dennoch ist es mit über 2000 MW das leistungsstärkste Kernkraftwerk Tschechiens. Auch wenn es hier noch nie einen Störfall gab, ist es kein schönes Gefühl direkt daneben langzufahren. Dessen ungeachtet  ist es wichtig, denn durch seine Platzierung im Süden des Landes  können Regionen mit der Elektrizität versorgen werden, die von anderen Energiequellen, wie den Kohlekraftwerken im Norden des Landes, weit entfernt sind.

Die Straße führt uns direkt nach Budweis, wo wir auf wunderbare Radwege ausweichen, die durch Wälder und Parks, an Fußball-, Baseball- und einem Golfplatz vorbeiführen. Wenig später sehen wir Zelte auf einer Kanutrainingsanlage, die es in Tschechien wirklich häufig gibt. An vielen Stellen hat man der Moldau ein Wehr gebaut und direkt daneben durch das Gefälle eine künstliche Wildwasserbahn erschaffen. 2000 und 2004 holten die Tschechen mit ihrer 2008er Fahnenträgerin Štěpánka Hilgertová bestimmt auch genau deswegen Gold bei den Olympischen Sommerspielen in Sydney bzw. Athen.

Wir durften unser Lager auch bei den anderen Zelten aufschlagen, auf einer Insel zwischen Moldau und Wildwasserbahn sozusagen. Wichtig an einem Zeltplatz sind allein die Duschen und die waren auch hier wieder vorhanden. Der Preis für die Übernachtung lag heute bei 110 CZK (4€). Gestern: 190 CZK, vorgestern in Prag: 400 CZK. Eine äußerst positive Entwicklung.

 

# 6

Mittwoch, 20.08.2008

Budweis – Český Krumlov – Rozmberk – Vyšší Brod – Bad Leonfelden

84,3 km

5:05 h

av. V = 16,5 km/h

↗ 733 hm

↘404 hm

av. P = 100 W

17°C - 21°C, von Nieselregen bis sonnig

491 CZK (Kronen)

& 52,73€

 

Die Nacht auf dem Zeltplatz war von Regen und Sturm geprägt, so dass ich zwischenzeitlich schon Angst hatte,  die  Moldau könnte über ihre Ufer steigen und uns wegspülen. Am Morgen aber stand, das  Zelt wie eine Eins und die Moldau war kleiner als am Vorabend, fast mickrig plätscherte sie vor sich hin. Vermutlich wurde sie an irgendeinem Wehr zurückgehalten.

Wie an jedem Morgen ging es nun an das zeitraubende Abbauen unseres Lagers. Heute fand es seinen negativen Höhepunkt, weil Konrads Radfahrunterhose und seine liebste kurze Hose nicht mehr über unserer provisorischen Wäscheleine hingen. Wir suchten das gesamte Gelände ab, schauten in den Duschräumlichkeiten, fragten die Kanuten um uns herum. Keiner hatte Konrads Sachen gesehen, so dass sich langsam in uns der Verdacht festigt, Opfer eines Diebstahls geworden zu sein. Dafür spricht auch, dass nur Konrads Sachen verschwanden, eben von der Leine an der auch meine Sachen hingen. Meine Klamotten waren aber nur No-Name-Artikel, während Konrad mit einer 80€-Unterhose von Craft und einer Adidas-Hose ausgestattet war. Auch die TU Dresden Shirts hingen noch da, wohl weil  die TU vergeblich versucht hat,  den Status einer Eliteuniversität zu bekommen. Wir warteten noch bis 11 Uhr,  um dem  Besitzer der Anlage den  Verlust anzuzeigen und unsere Handynummer zu hinterlassen, damit falls… naja es hat sich nie jemand gemeldet.

Die Laune war auf dem Tiefpunkt. Es wurden ja richtige Werte vernichtet und Konrad musste nun mit einer viel zu großen Hose weiterfahren, die ständig rutschte und die er eigentlich nur für den Besuch einer Moschee in Istanbul mitgenommen hatte, um sie danach gar nicht mehr wieder mit nach Deutschland zu bringen.

Wir durchfuhren die Bierstadt Budweis und aßen in einem geschlossenen Biergarten unser  Lidl-Frühstück, welches aus Semmeln (anderswo in Deutschland auch Brötchen genannt), Frikadellen (anderswo in Deutschland auch Buletten genannt)  und Pfannkuchen (anderswo in Deutschland auch Berliner genannt) bestand. Es regnete leicht - unserer Stimmung angemessen.  Budweis würdigten wir daher keines ernsthaften Blickes. Auf dem Weg nach Český Krumlov gurkten wir wieder fernab der Moldau durch das hügelige Südböhmen kleine Straßen entlang. Konrad musste ständig eine Hand am Hosenbund lassen um dafür Sorge zutragen, dass die katholischen Tschechen nicht seinen Allerwertesten präsentieren bekommen. Auf Wiegetritt bei Anstiegen musste er gänzlich verzichten.

In Český Krumlov, auch Krummau genannt, begannen wir,  nach einer neuen radfahrtauglichen Hose zu suchen. Krummau (ich nenne die Stadt ab jetzt mal bei ihrem alten Namen um nicht ständig dieses Č und dieses ý umständlich schreiben zu müssen) selber wurde scheinbar mitten in die Moldau gebaut.  Zumindest schlängelt sie sich wie eine Schlange dicht an den Häusern durch die Stadt. Eigentlich wie die Seine in Paris. Viele jahrhundertealte Gebäude, gebaut von den Witigonen im 13. Jahrhundert oder später von den Rosenbergern, findet man hier. Die UNESCO müht sich um deren Erhalt.

Hinter Krummau weichen wir wieder von dem sogenannten Moldau-Radweg ab und radeln eine wenig befahrene Straße direkt an der Moldau entlang. In einem,  mir jedoch namentlich entfallenem, Städtchen finden wir, für umgerechnet 4 €,  eine Hose für Konrad. Ihr knalliges Rot und das Hawaii-Hemd-Muster sind ebenso hässlich wie die - von runtergekommener Industrie und dem Bergbau geprägten – Stadt in der wir das gute Stück erwerben.

Von nun an wurde die Landschaft immer schöner, immer ruhiger und verträumter. Ringsherum ist ein tiefer und dunkler Wald. Die Moldau ist hier noch kein richtiger Fluss, eher ein großer murmelnder Bach, der unberührt seinen Weg dahin fliest. Am ehesten hier würde Bedřich Smetana seine Moldau wieder erkennen. An so vielen anderen Stellen hat sie sich gewiss durch Bebauung, durch riesige Staumauern und viele Wehre komplett verändert. Aber hier macht das wohl keinen Sinn und so kann man sich an der unberührten Natur erfreuen.

Leider wird der Frieden jäh gestört, mein Fahrrad fährt sich plötzlich unheimlich schwer. Erst dachte ich noch es liegt an mir, aber dann merkte ich, dass mit meinem Tretlager irgendetwas nicht in Ordnung ist. Die Kettenblätter vorne schwanken hin und her. Bald kann ich nur noch auf dem kleinsten Blatt fahren, auf dem Zweiten und Dritten wird die Kette  immer runtergezogen. Im bildschönen Rozmberk merken wir bei einer Eis-Pause, dass wir dieses Problem mit unseren Mitteln nicht lösen können.  Also weiter durch den hochwachsenden Wald im niedrigsten Gang Richtung Vyšší Brod. Es passt ganz gut, da es konstant flussaufwärts berghoch geht.

Mit immer größer werdender Angst vor einem plötzlichen Komplettausfall meines Tretlagers erreichen wir den Ort. War Rozmberk noch ein malerischer Ort, den man so auch in bayerischen Touristenregionen wiederfinden könnte, ist Vyšší Brod das genaue Gegenteil. Wir sind in Grenznähe: Also finden sich überall Ramschstände, an denen  man Markenprodukte zu verdächtig günstigen Preisen und niedrigen Qualitätsmerkmalen findet. Da man als Radfahrer Nichtraucher ist, interessieren wir uns auch nicht für preiswerte Zigaretten aus wer-weis-was. In einer Touristeninformation im Zentrum der Stadt erfahren wir, dass der nächste Ort mit Fahrradladen Krummau ist oder eben war. Nochmal 20km zurück? Nö – bitte nicht. Also fragen wir einen Automechaniker, der uns zwar nicht direkt helfen kann, aber einen „Service“  kennt, der das machen soll. Von diesem „Service“ weiß sonst niemand in dem Ort, also finden wir ihn nicht. Nur einen Rasenmäher-Reparateur-Servis finden wir schließlich am Ortsausgang von Vyšší Brod. Aber auch der kann uns nicht helfen, obwohl er gerne würde, da das Tretlager nicht locker sondern gebrochen ist. Ersatzteile finden wir hier nicht, versichert er uns. Er meint wir müssen über die Grenze nach Österreich: „Da findet ihr zu 90% Hilfe, schließlich ist es Österreich“, waren seine Worte. Gut,  dass es genau auf unserem Weg liegt. 12 km sind es noch.

Mit gebrochenem Tretlager fahren wir den Berg zum Grenzübergang hoch. Vor der Grenze geben wir noch schnell in einem Supermarkt all unsere Restkronen für das Lebensnotwenige aus: Nudeln und Süßigkeiten, bis die Taschen rammel voll sind. Dann, am fast höchsten Punkt, kommt das langersehnte Schild, welches uns zeigt, dass wir in Österreich sind. Österreich: Unsere Brüder in Geist und Sprache, in Währung und in Fahrradlädendichte.

Hallo Österreich !

Das erste an jeder Grenze: Ein obligatorisches Foto mit dem Wappen oder der Fahne des Landes in das wir einfahren. So geschah es auch an der Grenze nach Österreich. Zu diesem Foto haben wir uns  allerdings zwingen müssen, denn eigentlich waren wir in Sorge wegen des Schadens an meinem Fahrrad und waren nicht so in Happy-Posing-Laune. Konrad erzählte mir erst in Istanbul, dass er hier Angst hatte, dass das das Ende der Tour sein könnte.

Was uns sofort hinter der Grenze auffiel:  Auf dem Asphalt rollte man gleich viel leichter dahin und die Wiesen waren bis zur Waldgrenze gemäht. Es lag kein Müll mehr am Straßenrand und sogar die Sonne fing an auf uns zu scheinen. Es war richtig schön hier. Am höchsten Punkt der Straße bot sich uns ein grandioser letzter Ausblick auf Tschechien.

Nach zwei rasenden Abfahrten (man bedenke den tollen Asphalt) erreichen wir den ersten Ort hinter der Grenze: Bad Leonfelden.

Hier kamen wir uns wie im Paradies vor: Erstens sprach man unsere Sprache. So fanden wir schnell zu einem Fahrradladen mit Werkstatt. Der Fahrradmechaniker wechselt das Tretlager flink aus und nebenan konnten wir uns in der Zeit schöne Rennräder ansehen. Der Ring des Tretlagers war gleich zweimal gebrochen. Ich weiß nicht was passiert wäre, wenn uns das in der Walachei oder in Serbien passiert wäre, wo es einfach keine Fahrradläden gibt. Wir hatten sozusagen Glück im Unglück. Insgesamt kostete uns der Schaden nur 35 €.

 Zweitens scheinen in Bad Leonfelden nur offene und freundliche Menschen zu leben.  So zumindest war unser erster Eindruck, während wir auf dem Marktplatz auf das Fahrrad warteten. Ein gemütlicher Mann mit diesem herrlichen österreichischen Klang in der Stimme erklärt uns, dass man hier auf jeder Wiese sein Zelt aufstellen kann, da sich keiner daran stört. Eine Frau sucht ebenfalls das Gespräch, sie hatte auch gerade eine Fahrradtour hinter sich und wusste um diese schöne Art des Reisens. Und so verging die Zeit und wir mussten uns endlich aufmachen eine Schlafstelle zu finden. Völlig offen gingen wir an die Suche heran. Einen Zeltplatz gab es nicht in diesem idyllischen Ort, dafür war auf der Karte eine Jugendherberge eingezeichnet. Die Touristeninformation war am Abend nicht mehr besetzt, dafür konnte man jedoch an einem vollautomatisierten Terminal nach Unterkünften suchen. Sieh an, Bad Leonfelden hat eine Jugendherberge. Ein paar Klicks weiter, beschrieb uns die Maschine auch noch den Weg dahin.

Die Jugendherberge war dann gleich eine Ecke weiter, jedoch hatte sie nicht geöffnet. Auf einem vergilbten Aushang war die Telefonnummer des Hüttenwirts vermerkt. Ich hatte echt nicht erwartet, dass wir nur einen Anruf von der absoluten Glückseligkeit entfernt waren, denn erstens ging jemand ans Telefon und zweitens öffnete man extra für uns die Jugendherberge. Geil. Eine ganze Jugendherberge nur für uns alleine und das günstiger als auf so manchem Zeltplatz. Wir sind begeistert. Nachdem die Hüttenwirtin uns alles gezeigt hatte und wieder gegangen war, breiteten wir uns in dem ganzen Gebäude aus. Die Fahrräder standen sicher im Flur, in einem Waschbecken wuschen wir nach 6 Tagen alle Sachen und trockneten sie in einem eigens dafür geschaffenem Raum mit starkem Heizlüfter. Das Zelt wurde in einem anderen Raum ausgebreitet, wo es uns nicht im Weg stand und trocknete ebenfalls. In der Küche hatten wir einen Herd, Kühlschrank und sogar eine Geschirrspülmaschine, die unsere beiden Teller und das Besteck säuberte.

Die Jugendherberge hatte das Flair einer Bergbaude durch die rustikalen Tische, Stühle, Wandholzverkleidungen und die vielen Gipfelfotos, welche uns beeindruckten. Der Erbauer der Hütte war wohl ein großer Bergsteiger in den Alpen gewesen.

Es war ein sehr entspannender Abend in unseren eigenen vier Wänden. Wir fanden im Ort sogar noch eine deutschsprachige Zeitung und konnten uns so über den emotionalen Olympiasieg von Matthias Steiner im Gewichtheben freuen, der zwar Deutscher ist, aber eigentlich aus Österreich kommt. Jetzt sind wir in Österreich, sind aber eigentlich Deutsche. Irgendwie passt das. Wir schliefen beruhigt ein. So unterschiedlich können Nächte sein: Gestern noch stürmte und regnete es auf unser Zelt und wir wurden bestohlen und heute Nacht gehört uns ein ganzes Haus.

 

# 7

Donnerstag, 21.08.2008

Bad Leonfelden - Linz – Mauthausen - Ybbs - Melk

146,3 km

6:55 h

av. V = 21,1 km/h

↗ 235 hm

↘727 hm

av. P = 60 W

16°C - 32°C, sonnig, leichter Gegenwind

26,06 €

 

Wir schlafen aus.

Gerade als wir unseren Hofstaat halbwegs eingepackt hatten und man nicht mehr das Gefühl haben musste eine Horde Hunnen hätte die Jugendherberge besetzt, kommt die Putzfrau durch die Haustür geschritten um nach dem Rechten zusehen. Sie wird keine Auffälligkeiten melden müssen, denn wir verlassen die Jugendherberge genauso wie wir sie am Abend vorher vorgefunden hatten. Nur den Strom- und Wasserzähler sollte sie nicht allzu genau inspizieren. Wir haben es uns gut gehen lassen. Ihr Erscheinen ist für uns  aber dann das endgültige Zeichen nun endlich den Arsch hoch zubekommen, weiterzufahren und Bad Leonfelden  zu verlassen. Noch einmal fahren wir über den kleinen Markt und am Fahrradgeschäft vorbei. Wir werden es für immer in bester Erinnerung behalten. Das ganze Städtchen war eine äußerst positive Entdeckung. Vielleicht komme ich eines Tages zu einem Erholungsurlaub wieder. Die örtliche Kureinrichtung soll hervorragend sein.

Bis Linz und der Donau sind es von Bad Leonfelden nur 25 km und da es 750 Meter über dem Meer, pardon 750 Meter über der Adria liegt, den so heißt es hier in Österreich und Linz 260 müA liegt, konnten wir bis auf einen Gegenberg immer bergab fahren. Dieser eine Berg war dann auch der einzige des Tages (260 Höhenmeter), mehr noch: durch ganz Österreich, die Slowakei, Ungarn und bis Kroatien hatten wir, da wir ja immer konsequent der Donau folgten, keine Berge mehr zu erklimmen. Fast könnte man meinen, dass es so ein wenig langweilig wird. Und tatsächlich fehlte uns bald schon die Abwechslung.

Noch eine Randbemerkung zur Höhenmessung über der Adria: In Deutschland geben wir die Höhe über dem Meeresspiegel von Amsterdam, also der Nordsee an, während die Länder des ehemaligen Kaiserreichs Österreich-Ungarn den Meeresspiegel der Adria und zwar von Triest im Jahre 1875 als Bezugsgröße wählen. Der Unterschied liegt bei zirka 30 Zentimetern. Bei Gelegenheit, wenn die EU-Abgeordneten mal nicht so viel mit der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages beschäftigt sind oder über den Status der Türkei verhandeln, wird man das gewiss vereinheitlichen.  

So,  wir rasten also mit einem Affenzahn nach Linz hinunter. Das hatten wir uns redlich verdient, da wir der Elbe und der Moldau immer flussaufwärts gefolgt waren und so auf die Höhe der Gipfel des Böhmerwaldes gekommen sind. Nun geht es auf der anderen Seite hinab, zum Tal der Donau.

In Österreich schien gerade Wahlkampf zu sein, denn am Straßenrand huschten viele Wahlplakate an uns vorbei. Die ÖVP verspricht „einfach mal alles“ und stellt ihre Plakatwände taktisch so klug auf, dass man die Plakate der anderen nicht richtig sehen kann. Der Grünenkandidat will sich einfach mal gegen alles stellen: „Nicht mit mir“.  Faymann von der SPÖ versucht es dagegen mit Personenkult, mehr verraten seine Plakate nämlich nicht.

In Linz kaufen wir in einem Supermarkt Frühstück: Baguette mit Schmelzkäse. Wir setzen uns hinter den Supermarkt auf den Bordstein. Das Frühstücken zelebrieren wir immer und lassen uns durch nichts  hetzen. Wir besprechen grob wie weit die Reise heute gehen wird und wo man eventuell die Nacht verbringen kann. Ich muss immer wissen was mich erwartet, außerdem müssen wir unsere Erwartungen an den Tag noch abgleichen. Im Inneren sind wir beruhigt, da wir nun an der Donau sind. Hier wissen wir von dem vorzüglichen Donauradweg, der uns problemlos bis Wien und weiter geleiten wird. Die Zeiten des Verfahrens und Umherirrens sind nun erst einmal vorbei.

Frisch gestärkt und super ausgeschildert folgen wir nun auf dem Radweg direkt dem Fluss. Die Donau ist schon hier ein mächtiger und breiter Fluss und an den  Ufern sind Dämme und Deiche auf denen wir gleichmäßig entlang langfahren. Nachdem wir Linz hinter uns gelassen haben, sind außer Wasser, Deich und Auen erst einmal nichts zusehen. Wir langweilen uns. Ziemlich undankbar sind wir, aber dennoch ist man nicht mehr gefordert. Da wir wegen des Gegenwindes im Windschatten fahren, können wir nicht einmal miteinander reden.

Das nächste Highlight ist ein großes Wasserkraftwerk, das die gesamte Donau überspannt. Hier wechseln wir auf die Südseite der Donau, vielleicht ist es da ja interessanter und tatsächlich fahren wir nun nicht mehr direkt am Wasser, sondern kurven auf immer noch perfekten Radwegen mit perfekter Beschilderung die „Moststraße“ entlang. Der Name suggeriert, dass die Leute hier in ihren vielen Vierkanthöfen gerne Früchte ausquetschen und daraus Saft fabrizieren.

Als nächstes freuen wir uns auf die älteste Stadt Österreichs: Enns. Eines der ausgemachten Ziele vom Frühstück. Gedanklich sehe ich mich schon den Stadtturm nach dem Wappen und dem Datum der Gründung absuchen. Doch irgendwie schaffen wir es,  einmal falsch abzubiegen und so an Enns vorbei zufahren. Ohne es zu merken. Ohne die Stadt auch nur einmal von weitem zu sehen. Ärgerlich. Der Radweg endet plötzlich an der Donau und eine Fähre nur für Radfahrer setzt über. Wir wissen noch nicht genau ob über die Donau oder den Zufluss Enns. Schließlich fahren wir erneut auf die Nordseite der Donau nach Mauthausen. Enns verpasst. Da es uns aber auf der Südseite so gut gefiel und hier auf der Nordseite der Radweg an einer großen Straße entlang geht, fahren wir über die nächstbeste Brücke wieder zurück ins zauberhafte Mostviertel.

An einer Bank machen wir Pause und entdecken einen Gedenkstein. Die Inschrift ist schon fast eine Stilblüte. Hier wurde Franz Petersei bei der Überfahrt von Russen erschossen. Warum, verrät der Stein nicht. Nicht zu glauben, dass auch in dieser schönen Landschaft Krieg geführt wurde und Kriegsverbrechen begangen wurden. Aber Mauthausen und sein KZ hatten wir ja gerade hinter uns gelassen…

Der Radweg geht mal kurvig durch verträumte Dörfer auf Wirtschaftswegen und ruhigen Nebenstraßen im Hinterland, mal geht er auch direkt an der Donau entlang. Mal fährt man durch Felder und Apfelbaumwiesen, mal sieht man Burgen an den Hängen der Donau wie in Wallsee oder auf der anderen Donauseite die Greinburg und auch die Burg Werfenstein, wo sich das Donautal verengt und die Granitfelsen bis ans Ufer reichen. Man kann sich gut vorstellen, wie da der Burgherr ein glückliches Leben führte und früh nach dem Aufstehen erst einmal einen entspannten Blick über seine Donau und die angrenzenden Gebiete wirft. Er kontrolliert ob seine Vasallen auch alle schon fleißig vor sich hin werkeln und begibt sich dann zum Frühstücken auf die sonnige Terrasse. Dort hat dann der Mundschenk, neben Saft aus dem Mostviertel, schon alles aufgetafelt, was die Felder und Ställe hergeben. Burgherr müsste man sein.

Auf einem bewaldeten Hügel etwas später, thront eine weitere Burgruine über der Ortschaft Freyenstein. Frauen sollten diese Gegend in Vollmondnächten meiden, da dann der legendäre Donaufürst „Nöck“ vom Grund des Stromes kommt und sie mit seiner Harfe in sein Unterwasserreich lockt.

Als es schon Abend wurde – ja, außer Burgenphantasie passiert nicht viel - kommen wir nach Melk und schlagen unser Lager direkt an der Donau auf einem Zeltplatz auf. Die Sonne ging bald farbenfroh unter. Das passte zur Stimmung.

Die fast 150 Kilometer bei - zum ersten mal - über 20 km/h im Schnitt heute merke ich kaum in den Beinen, Konrad vermutet dahinter wohl eher im Scherze Doping, da ich am Abend vorher meine Mückenstiche mit Fenistil-Gel behandelt hatte und diese Salbe Hydrocortison enthält, was ein Dopingmittel sein kann. Daher weigert er sich dann auch, es selbst auszutragen und kratzt lieber auf seinen Mückenstichen rum.

Ich gehe am Abend noch eine Runde in Melk spazieren. Das Benediktinerstift ist in der Nacht herrlich von Scheinwerfern angestrahlt und dominiert das Bild dieses Städtchen.

Nieder- und Oberösterreich sind sehr schön, gemütlich und gepflegt. Auch ohne Berge an der Donau.

 

# 8

Freitag, 22.08.2008

Melk - Krems - Tulln - Wien

141,6 km

7:17 h

av. V = 19,4 km/h

↗ 139 hm

↘127 hm

av. P = 60 W

17°C - 34°C, sonnig, leichter Gegenwind

20,30 €

 

Die Aufzeichnungen des heutigen Tages entstammen so wortwörtlich Konrads Aufzeichnungen es sei denn die kursiven Anmerkungen ergänzen seinen Text:

„Melk – Wien  22. August 2008   Tag 8

Es ist ja jeden Morgen das Gleiche:  Schweinehund überwinden, aufräumen, auf den verfluchten Drahtesel. Heute schaffen wir all das recht schnell und sind so etwas eher unterwegs als erwartet. Heute wollen wir eine weitere Hauptstadt aufsuchen. Auf dem langweiligen Radweg ja kein Problem. Und so radeln wir dahin. Zwischendurch Frühstück (Baguette…) und eine Limo mit dem Namen Schartner Bombe, die wir kauften,  weil sie einen so ungewöhnlich aggressiven Namen trägt.

Hier erfahren wir, dass ein Kilometer perfekter Radweg in Österreich eine Million Euro kostet. Eigentlich sollten wir nämlich laut Radführer-Karte ein Stück Offroad fahren, doch Österreich hat auf der Strecke dieses Jahr gebaut. Das Infoschild über den Bau stand noch.

Anschließend fahren wir durch schönste Weinberge. Der Moritz (der Weingourmet) hätte seine Freude. Auch hier wieder ein Gedenkstein, für einen Elitesoldaten. Seine Todesursache steht nicht da, trotzdem fasziniert so etwas.

Zur Mittagszeit, die Sonne steht kurz hinterm Zenit, machen wir Pause. Vorher vertreiben wir noch zwei Mädels oder sie gingen von sich aus, dann machen wir uns auf der Raststätte breit. Das Zelt wird ausgepackt und in die Sonne gelegt, während ich mich im Schatten zur Ruhe bette. Kurz schlafe ich sogar. Die Siesta hat den Beinen gut getan, doch sie wird wie vor 3 Jahren -auf der Radtour von Hamburg nach San Sebastian- mit Gegenwind bestraft. Und so kämpfen wir uns, abwechselnd im Wind, bis Tulln. Hier kaufen wir Trinken und umfahren ein Festgelände (so wie vorher ein großes Fest der Feuerwehren  in dem man uns aus Sicherheitsgründen (?) zwingt,  die Fahrräder zuschieben). Aufgrund des beim Soundcheck  immer wieder gerufenen „He-yah!“,  vermuten wir ein Countryfest, doch Beweise finden wir nicht.

Wir lassen die Countryklänge hinter uns und fahren auf dem gut asphaltierten Radweg gen Wien. Ein oberkörperfrei er und bierbäuchiger Herr hängt sich in unseren Windschatten. Es hatte ja, wie gesagt, gegen uns gewindet. Das betrachten wir gerade als Ansporn und hacken richtig. (Hacken = volle Bulle treten ohne rechts und links einen Blick liegen zulassen) . Doch der Mann hält mit… Selbst eine zweite Tempoverschärfung vom Stefan bringt nichts. An einer Weggabelung machen wir kurz halt und ich sage zu dem Windschattenfahrer: „Sie sind gut mitgefahren!“ -Halb lobend, halb anklagend (Aber mal wirklich: er hätte ja auch mal Führungsarbeit leisten können). Er lächelt zurück und sagt ebenfalls lobend: „Ihr seid gut gegen den Wind gefahren. Danke.“ Das Lob nehmen wir dann gerne an. An der besagten Weggabelung trennen sich unsere Wege und so kommen wir zu einer Fähre. Wir lieben Fähren! Man kann entspannen, ein Foto schießen und den Fluss genießen. Um die Fähre zu rufen, müssen wir eine Metallfahne hissen  und wenige Augenblicke später tuckert auf der anderen Seite ein Boot los. Die Fahrt kostet uns 5 Euro, der Fährmann ist ein uriger Typ, redet uns mit „Burschen“ an. Auf der anderen Seite geht der Radweg gut weiter und wir stehen bald vor Wiens Vororten. Hier wird nochmal Nahrung gekauft. Auch fragen wir uns, wo wir heute schlafen werden, denn so richtig können wir auf keiner Karte einen Zeltplatz finden. Mit dieser Ungewissheit fahren wir in Wien ein. Die Stadt wirkt ruhig, etwas gemächlich. Mehrere Stadtstrände sind an der Donau aufgebaut. Kurz nach der Urania fahren wir in die Stadt hinein, Richtung Prater. Der ist echt groß. Viele Jogger, Skater, Radfahrer und Spaziergänger sind unterwegs.

Beim Ernst-Happel-Stadion, wo zwei Monte vorher das Finale der Fußball-Europameisterschaft ausgetragen worden ist:  Deutschland verlor ja leider gegen Spanien. Alte Wunden öffnen sich wieder. Jedenfalls vor dem Stadion schieße ich ein Foto von Stefan, langsam wird es dämmrig  und uns fehlt ein Platz zum Schlafen. Ich werde passiv aggressiv, will,  dass Stefan mal „hinmacht“ und überhaupt: Wie kann man Wien als Tagesziel ausgeben und dann nicht wissen wo wir schlafen sollen?! In solchen Momenten werde ich immer sehr schweigsam.

Relativ schnell verlassen wir dann den Prater und kehren zurück zur Donau. Nach einem gescheiterten Überquerungsversuch (nur Eisenbahnbrücke) finden wir einen Weg auf die Donauinsel, der wir einen recht langen Besuch abstatten. Die Sonne geht jetzt sehr schnell unter und wir haben noch immer keinen Platz zum Schlafen. Es sollte wohl aufs Wildcampen hinauslaufen…

O.k.,  wir fahren noch ein paar Kilometer aus Wien heraus, dann checkt Stefan hinterm Deich die Lage. Er findet einen Super-Schlafplatz. Doch kaum laden wir unsere Sachen ab, da fallen die Mücken über uns her. Stefan wird sogar am Po gestochen. Wo zum Teufel war das Autan?! Nachdem wir uns „autanisiert“ haben, kochen wir Essen, während die Mücken einen Weg finden „unautanisierte“ Körperstellen zu erreichen und gnadenlos zu zustechen. Ich fühle mich wie Mückenfraß! Man muss sich das so vorstellen: Eine ruhige unberührte Auenlandschaft, direkt an der Donau, feuchte Wiesen  und ein milder Sonnenabend und vermutlich sahen diese 10 Millionen Mücken zum ersten Mal zwei Säugetiere, welches sie nun aussaugen mussten. Also den Pullover anziehen.

Nach dem Essen gehen wir nochmal an die Donau und Stefan springt nackt ins Wasser… sowas ist nix für mich, ich stehe Schmiere. An diesem Abschnitt der Donau wurden viele Ferienhäuser gebaut, doch heute Abend sind die wenigsten erhellt. Als wir zurück zum Zelt gehen, merken wir, dass wir mitten in der Einflugschneise des Wiener Flughafens campieren. Öfter dreschen über uns Flugzeuge zur Landung.

Stefan hat ein bisschen Angst, erschlagen zu werden, weil die Fahrräder recht instabil, sich gegenseitig abstützend, neben dem Zelt stehen. Ich mache mir Sorgen wegen eines Försters  oder Privatgrundbesitzers…, doch bis zum Einschlafen (was recht schnell geht, sobald es dunkel wird) geschieht nichts weiter.

Hoffentlich haben wir durch unseren generalstabsmäßig geplanten Sturm ins Zelt den Mücken keine Zeit gelassen,  uns zu folgen.“

Noch bevor Konrad an diesem Abend einschlief,  behandelte er seine vielen Mückenstiche mit dem Dopingpräparat Fenistilgel. ;-)

Der oben genannte Moritz ist ein Studien-, Wein- und FC Kaiserslautern-Freund von Konrad. Mit ihm studierte er 6 Semester Physik.

In der Nacht stürzten weder die Fahrräder um, noch wurden wir aus diesem Nationalpark Donau-Auen vertrieben.

 

# 9

Samstag, 23.08.2008

Wien – Hainburg - Bratislava (SK) - Rajka (HUN)

81,5 km

3:30 h

av. V = 23,2 km/h

↗ 72 hm

↘130 hm

av. P = 80 W

19°C - 29°C, Rückenwind! heiter bis Regen

16,21 €

& 1700 HUF (Forint)

 

Konrad wachte schon sehr zeitig auf, es ist gerade Mal halb 7 als er sich aus dem Schlafsack schält und das Zelt öffnet. Daher geht heute alles viel eher als sonst los. Nach zwei langen Etappen wollen wir nur eine kurze fahren und ab Mittag schon wieder einen Zeltplatz suchen, um mal einen freien Nachmittag ohne Fahrradfahren zuhaben. Wir visieren schon am Morgen den Ersten hinter der ungarischen Grenze als unser Tagesziel an.

Wir fahren – wie gestern Abend – auf der Krone des Marschfelddamms gen Osten. Da er fast immer sehr gut asphaltiert ist und wir einen starken Rückenwind haben, legen wir die 30 Kilometer bis Hainburg spielend einfach zurück. Das ist auch gut so, denn Frühstück hatten wir noch keines und bis Hainburg gibt’s auch, außer stiller und unberührter Natur am frühen Morgen, nichts.

Hainburg ist der letzte richtige Ort vor der Grenze, hier geben wir unsere letzten Euro – die wir ja nun nicht mehr brauchen – für Nahrungsmittelvorräte und Frühstück aus. An Samstagen ist immer höchste Vorsicht geboten: Wer weiß schon,  ob er an einem Sonntag irgendwo im Niemandsland etwas Essbares oder Getränke kaufen kann? Also wird im Pennymarkt der Stadt auf munitioniert.

In Hainburg fangen wir auch an,  uns für die römische Vergangenheit an der Donau zu interessieren, denn hier war einst ein wichtiger Kreuzungspunkt zweier Handelswege. Zum einem nutze man die Donau schon damals um Güter von Westen nach Osten zubringen, zum anderen kam hier die Bernsteinstraße an, die von der Ostsee bis zum Mittelmeer reichte. Hainburg hieß damals Carnuntum, die Stadt am Stein, wohl wegen des  markanten  Braunsberges am Ostrand. Auf Grund seiner wichtigen strategischen Bedeutung, direkt am Limes des römischen Reiches, wurde  Carnuntum oft angegriffen, besetzt, zerstört und wieder aufgebaut. Neben einigen Germanenstämmen hausten in der Zeit der Völkerwanderungen auch die Hunnen hier. Im Nibelungenlied wird von der alten Ruine der Burganlage oben auf dem Schlossberg gesungen. Die noch heute erhaltenen 3 Stadttore, 15 Stadttürme und die Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert zeugen davon, dass dieses Städtchen einst der wichtigste östliche Vorposten des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation war. Die Ungarn - und später die Türken -  kämpften auch noch um diese Stadt.

Genug von der Geschichte, denn für uns wäre hier in Hainburg die Radtour fast zu Ende gewesen. Wir hatten uns nämlich, während wir auf einer Bank frühstückten, mächtig gestritten. So sehr, dass wir ernsthaft in Erwägung zogen, die gemeinsame Tour so bald und so günstig wie möglich zu beenden. Diese  Gedanken hatte  aber jeder  für sich, denn bis Bratislava fuhren wir getrennt von einander. Wir redeten kein Wort und würdigten uns keines Blickes. Es waren zwar  nur 15 Kilometer,  aber deswegen gibt es kein obligatorisches Grenzübergangsfoto! Wenn die Spannungen auch nur die eine Stunde oder so anhielten, war es doch bitter ernst:  So einen Streit hatten wir in über 10 Jahren treuer Freundschaft noch nie erlebt. In Bratislava trennten wir dann unsere Güter, da sich unsere Wege trennen sollten. Konrad hatte schon die schnellste Exit-Strategie über den Bahnhof von Bratislava geplant. Ich wäre wohl erst mal alleine weitergefahren.

In dem  Augenblick, wo unser beider Traum, mit dem Fahrrad Istanbul zu erreichen, platzen sollte und dass nicht wegen Krankheit oder Fahrradschäden, sondern weil ich meinen Stolz nicht überwinden konnte, kehrte die Besinnung zurück. Unter der Brücke beendeten wir den Streit,  so schnell wie er begann,  wieder. Wir dachten beide noch eine Weile über das eben passierte nach und dann fuhren wir weiter.

Bratislava und die ganze Slowakei interessierte uns nach diesem Vorfall kein bisschen. Wir düsten einen  weiteren Damm, auf einer Insel zwischen der Donau und der Kleinen Donau,  entlang. Immer noch mit dem Wind im Rücken. Die Donau wurde links von uns immer breiter bis es mehrere Kilometer bis zum anderen Ufer waren. Eine Strömung konnte man nicht mehr ausmachen, denn viel Treibholz schien bewegungslos auf dem Wasser zu stehen. Es sah aus wie eine Überflutung, aber es war keine, sondern eine künstliche Aufstauung. Unser Aufenthalt in der Slowakei dauerte nicht lang: 20 Kilometer hinter Bratislava fuhren wir schon nach Ungarn ein.

Die Grenzregion war ein trostloser Fleck. Die Grenzanlage wurde seit Jahren nicht mehr genutzt, weil man irgendwo eine andere gebaut hatte und so verfiel alles. Die großen Fenster der Zollanlage waren eingeschlagen. Schranken und Verkehrszeichen rosteten vor sich hin und so langsam erobert sich die Natur beziehungsweise  das Unkraut die Anlage zurück, die aber eben für Radfahrer noch offen war. Zwei Autos mit Vogtländer Kennzeichen müssen aus Ungarn kommend umkehren: Für Autos gibt’s hier kein durchkommen mehr. Der Fahrer ruft dem anderen Auto diese Feststellung in perfektem sächsisch zu. Wenn die wüssten…

Jetzt waren wir schon in Ungarn und mussten noch immer keinen Ausweis oder gar den Reisepass vorzeigen, ja noch nicht mal einen Grenzbeamten haben wir irgendwo gesehen. Die EU und das Schengen-Abkommen machen Europa grenzenlos, im wahrsten Sinne des Wortes.

Für mich begann nun ein Abschnitt in Europa, den ich noch nie zuvor gesehen oder besucht hatte. Konrad erging es genauso. Umso gespannter waren wir. Doch Ungarn zeigte sich in den Grenzgebieten von seiner betrüblichsten Seite. Als hätte man die Region vergessen, als seien die Bewohner ausgestorben oder über die Grenze mit ihren Fahrrädern davongefahren. Breite Straßen aber keine Autos, verfallene Bahnhofsanlagen, leere Häuser am Straßenrand. Im ersten Ort hinter der Grenze, wo wir ja unser Lager aufschlagen wollten, war es nicht anders. Keine Menschenseele konnte man finden. Eine Geisterstadt. Werden so die infrastrukturärmsten Städte in den neuen Bundesländern irgendwann auch aussehen? Vor einer Kneipe saß dann endlich ein menschliches Wesen, was uns beobachtete. Wir hatten ein echt mulmiges Gefühl. Doch der Mann war sehr freundlich und er versuchte sogar, ein paar Worte in Deutsch zusagen, nachdem wir ihn nach dem Weg zum Zeltplatz fragten. Der Zeltplatz war ein Stück außerhalb: Inmitten der Natur, zwischen Nebenflüssen der Donau und Kanälen, Wäldchen und Wiesen war ein Haus an dem „Camping“ stand. Aber wir konnten keine Zelte entdecken. Außer uns war erstmal niemand da, nur ein junges Mädchen, das hier scheinbar die Geschäfte leitet.

Da erst Mittag war bauten wir das Zelt nicht auf, sondern setzten uns  unter eine Art riesigen Pavillon und machten erstmal nichts. Der Himmel hatte sich zugezogen und es fing leicht an zu regnen. Den ganzen Nachmittag bis zum Abend nutzen wir zur Regeneration. Wir lasen, wir aßen Kekse, wir wuschen Sachen und versuchten sie wieder zu trocknen, was aber wegen des leichten Regens nicht funktionieren konnte.  Ich spazierte ein wenig durch ein Birkenwäldchen. Zum Glück hatte der Zeltplatz diese große überdachte Terrasse, auf der es trocken war. Später kamen ein paar Kids von irgendwoher an und spielten am Kicker.  Den ganzen Tag dudelte aus den Lautsprechern ein und dasselbe Alphaville-Album leise vor sich hin:  „It's easy, when you're big in Japan. Aah, when you're big in Japan tonight -  Big in Japan be tight. Big in Japan - ooh the eastern sea's so blue..“ Und so weiter. Uns gefiel es.

Gegen Abend wurde es unter dem Dach langsam voller. Anscheinend war das hier so eine Art Dorfdisko, wir verzogen uns in die hinterste Ecke des Zeltplatzes, nutzen die Regenpause, bauten unser Zelt auf und kochten Abendbrot. Wie IMMER: Nudeln.

Am Ende des Tages ist,  wie am Morgen auch, eine klare Routine zu erkennen: der Schlafsack, der Kopfkissen-Pullover und Wertsachen kommen ins Zelt;  Kochzeug,  Lebensmittel und alles was Gerüche entwickeln könnte (Schuhe) liegen unterm kleinem Vorzelt, den Rest wandert zurück in die Gepäckträgertaschen, welche wir wieder ans Fahrrad klicken und dann kommt zum Abschluss eine Fahrradplane als Regenschutz drüber. Es gibt einem doch ein gutes Gefühl, wenn es regnet und man weiß, dass es dem Fahrrad gut geht und es heute Nacht nicht rosten kann.

Zeitig gehen wir dann irgendwann vor lauter Langerweile schlafen. Es wird ja aber auch Ende August schon schnell dunkel. Ein paar Meter weiter haben slowakische Kanuten ihr Lager aufgeschlagen und machen ein Feuer, welches  ein schönes, leichtes Flimmern auf die Zeltwand wirft.  Tatsächlich fing es wieder leicht an zu regnen. Wir bemerkten ein kleines Leck im Zelt und so tropfte ein wenig Wasser herein. Das störte aber echt nicht weiter, an diesem Abend nicht und überhaupt, denn:  Es sollte nie wieder auf uns regnen bis zum Ziel in Istanbul!

Eine kurze und leichte Etappe war das heute. Die Landschaft wird immer flacher. Der Rückenwind half uns heute auch kräftig mit und verschaffte uns eine recht hohe Durchschnittsgeschwindigkeit für Radreiseverhältnisse. Aber das zählte alles nichts: Wichtig war, dass wir uns wieder vertragen und verziehen hatten und gemeinsam und glücklich weiterfahren konnten.

 

# 10

Sonntag, 24.08.2008

Rajka - Györ - Komárom

102,0 km

4:36 h

av. V = 22,1 km/h

↗ 81 hm

↘121 hm

av. P = 60 W

18°C - 31°C, Rückenwind! bedeckt bis sonnig

10164 HUF (Forint)

 

Heute überlasse ich wieder Konrads Tagebuch das Wort oder besser die Schrift:

„Raika – Komárom     24. August 2008    10.Tag

Es ist relativ trocken im Zelt, sehr viel trockner als vor 3 Jahren an regenfreien Tagen. Zwar sind viele unserer Klamotten nass bis feucht, doch mit: „Dein Körper ist eine 37°C heiße Heizung, da trocknet das schnell.“ Überzeugt mich Stefan,  die Sachen trotzdem anzuziehen. Tatsächlich sind sie dann schnell trocken, auch weil kaum eine Wolke am Himmel steht.

Vorbei an urigen ungarischen Dörfern, mit halbverfallenen Häusern, aber auch edlen Villen aller Baustile, fahren wir zurück auf die Route der Radkarte. Es ist Sonntag und wirklich voll ist der Backpacker auch nicht mehr. (eine weitere Wortneuschöpfung: Backpacker ist die Gepäckträgertasche die oben auf den seitlichen Taschen aufliegt und so leicht zu öffnen ist. Da ist unser Essen drin. Ein „nicht wirklich voller“ Backpacker ist ein Vorzeichen für einen Nahungsmittelengpass). Erste Pflicht ist in es in solchen Situationen daher,  Essbares zu finden. Nach rund 15 km (ich habe mittlerweile mehrere Energieriegel gefrühstückt)  halten wir an einer Art Bäcker. Mm,  kein Bäcker, eher eine verrauchte Eckkneipe, wo auch Törtchen und Kuchen verkauft werden. Ein kleiner Fernseher läuft und zeigt etwas Olympisches. Ach ja Olympia. Ungarn hat im Wasserball gewonnen. Gold? Bronze? Irgendwas? Quasi zum ersten Mal stört mich der mangelnde Zufluss an Informationen. Zwei kleine Tortenstücke werden bestellt, aufgrund des unerträglichen Zigarettenrauchs setzen wir uns draußen hin. Also mir schmeckt die Torte, wie viele Kalorien sie wohl hatte? Viel = Gut.

In Györ, unserer ersten ungarischen Großstadt, heben wir Geld ab. Also eigentlich macht das Stefan, ich halte draußen die Fahrräder. Prompt werde ich angebettelt. Verdammt - wie hartnäckig direkt vor einer Bank. Erstens habe ich nix, zweitens gebe ich nix und drittens verstehe ich nix. Endlich kommt Stefan wieder und wird ebenfalls angebettelt. Hoffentlich werden wir nicht gerade beklaut, ich bin besonders aufmerksam. Auch Stefan wimmelt den Bettler ab und wir radeln weiter. Nach einem Kreisverkehr, wo wir leicht die Orientierung verlieren, finden wir ein Einkaufszentrum. Und welch Glück?!  Es hat zum Sonntage geöffnet! TESCO. Ein kleiner Drogeriemarkt darin liefert uns neues Autan und eine Nagelschere. Wie auf der letzten Tour hatten wir sie vergessen. Der Tesco liefert lecker Essen… also Nudeln und Cola.

Wie bereits erwähnt, wir wussten nicht mehr, wo es weiterging. Ein zweiter Kreisverkehr folgt ungenügend ausgeschildert. Stefan fragt in einer Tankstelle. Ja, die Richtung stimme. Aber die beiden Tankstellenangestellten schienen sich auch über uns in irgendeiner Weise lustig zu machen, sie zeigten zwar in die Richtung, lachten sich dabei aber kaputt. Wie Dick und Doof. Nun endete die Straße dann an einer für Radfahrer verbotenen Brücke. Haha, wie witzig. Ratlos stehen wir davor und wuchten die Fahrräder gerade auf den 20 cm höheren Gehweg um so die Brücke zu überqueren, da kommt ein kleiner Ungar auf einem Motorroller und fragt, in leicht brüchigem deutsch, wo wir den hin wollen. Ach, diese freundlichen Menschen, man trifft sie überall und vergisst so schnell die Trottel.  Ohne ihre Hilfe wäre so eine Tour sehr viel schwerer. Wir zeigen ihm die Karte, er überlegt kurz, sucht nach Worten und gibt dann auf. „Hinterher fahren!“ Hinterher fahren? Das kommt mir bekannt vor, mussten wir doch vor 3 Jahren in Holland hinter einem motorisierten Mädel her rasen. Doch der Ungar fährt nicht 50km/h, er fährt nur 30km/h. Keuchen müssen wir trotzdem. Rund ein bis zwei Kilometer geht die wilde Fahrt. Oder auch mehr, wir waren ja flott unterwegs. Schnell noch wird uns eine bessere Route, als die des bikeline-Reiseführers, erklärt und wir bedanken uns.

Dreißig Minuten später gibt es Mittagessen. Brot mit Marmelade oder halt Käse. Es kommt dabei heute zu keinem Zwischenfall.

Dafür kommt leichter Wind auf. Stefan geht wieder vor in den Wind. Schon nach kurzer Zeit verlassen wir die Route des bikeline-Reiseführers. Die Straße wird leerer, aber auch schlechter. Leichten Anstiegen, folgen leichte Abfahrten. Nach einer Autobahnüberquerung übernehme ich die Führung  und vorbei geht es  an einer großen Gänse/Puten/Truthahn-Zuchtanlage  nach Komárom. Die Anlage war kilometerlang und stank bestialisch. Das ortsansässige Thermalbad ist gut ausgeschildert, ohne gegräpel* wird es gefunden. Am ersten “ZELTplatz“ weist man uns ab, Zelte seien unerwünscht. Am nächsten Zeltplatz nimmt man uns für den fürstlichen Preis von 5700 Forint (25 €) auf. Inbegriffen ist jedoch auch der Eintritt ins Thermalbad. Gut, da wollten wir sowieso hin. In der äußersten Ecke des Zeltplatzes bauen wir das Zelt auf. Nachdem wir unsere Sachen aufgeräumt haben, gehen wir ins Thermalbad.

Rote  Armbänder mit integriertem Chip  öffnen  uns die meisten Tore. Das erste Tor jedoch hat einen Magnetstreifenkartenkontrollkasten und ein Schild weist an: „Tor immer schließen!“ Die Tür bekommen wir wohl nicht auf. Eine Magnetkarte fehlt uns. Da Stefan sich vor der dominanten, blonden Rezeptionsdame leicht fürchtet, begleite ich ihn. Siehe da, man braucht gar keine Magnetkarte, das Tor ist immer offen!!! Die Schilder und die Anlage sind nur Attrappe, Show. Aber uns hat sie ja auch abgehalten, also scheint es zu funktionieren.

Im Bad wird jeder unserer Schritte durch die Armbandchips verfolgt. Stolz präsentieren wir unsere Radfahrerbräune und die kantigen Waden. Lustig hingegen machen wir uns über solariumsgebräunte Schönlinge.

Das Bad ist recht schön. Warmes, stark ionisiertes Wasser umspült uns. Es hat einen so starken Auftrieb, dass ich mich schon leicht anstrengen muss, um die Füße unter Wasser zuhalten. Auch mein Sonnenbrand schmerzt im salzigen Wasser, doch das warme Wasser tut ansonsten sehr gut. Nach einer Stunde Entspannen im Wasser legen wir uns an die frische Luft in futuristisch anmutenden Hängematten und lesen unsere Bücher. 

Als es dann kühler wir und die Sonne kurz vor dem Untergehen ist, koche ich Essen und Stefan macht sich nochmal auf den Weg, auf der Suche nach Gas. Er bleibt lange genug weg, dass ich mir Sorgen mache. Mit Leckereien, aber ohne eine Gaskartusche, kommt er nach einer dreiviertel Stunde wieder. Der Grund für sein langes Fernbleiben, lässt sich wohl am besten mit „I hoabb niggs“ beschreiben: Dies waren nämlich die Worte eines Deutschen, der beim Verlassen des örtlichen Tesco-Supermarktes die Diebstahl-Alarmanlage auslöste. Die Security habe sofort reagiert, berichtete Stefan, und habe den dicken Mann festgehalten. Woraufhin dieser ungehalten wurde und immer wieder „I HOABB NIGGS!“ schmetterte. Ende offen.

Campinggas ist in Ungarn offenbar unbekannt. Stefan wird zu Tankstellen und Supermärkten geschickt, doch Brennstoff bekommt  er nirgends.

Am Abend gedenken wir des 1. Mm (=Megameter = 1.000.000 Meter = 1.000 Kilometer) unserer Tour. Schnell noch weiße Schokolade gefuttert, dann wird geschlafen.“

*das Wort sollte man inzwischen kennen.

 

# 11

Montag, 25.08.2008

Komárom – Komarno (SK) – Esztergom (HUN) - Budapest

128,6 km

6:25 h

av. V = 20,0 km/h

↗ 116 hm

↘138 hm

av. P = 60 W

17°C - 30°C, sonnig

10583 HUF (Forint)

 

Nach wenigen Metern verlassen wir heute nochmal kurz Ungarn, als wir die Donau über die „Brücke der Freundschaft“ queren und nochmal in die Slowakei einfahren. Auf der anderen Flussseite wartet Komarno. Dass die beiden Städte so ähnlich klingen kommt nicht von ungefähr: Bis zum Ende des ersten Weltkrieges war das eine Stadt, doch dann wurden die Grenzen neu gezogen und die Stadt geteilt. Da wir Komarno nur an der Donau und am Hafen kennenlernen, sehen wir außer vergammelten Industrieanlagen nicht viel. Wir verlassen die Stadt über eine Buckelpiste und kommen wieder auf einen Deich heraus, welcher allerdings nicht wie im Teil hinter Bratislava asphaltiert ist.

Auf dem Deich vor uns laufen einige Störche umher, sie halten vermutlich Ausschau nach frischen Fröschen. Wir fragen uns warum sie hier und nicht im ruhigen Ungarn auf der anderen Seite der Donau ihr Glück versuchen. Als wir näher kommen fliegen sie davon. Uns hat es hierher verschlagen, weil in Ungarn einige Berge auf uns gewartet hätten, die wir so gekonnt und ohne einen nennenswerten Umweg umfahren. Die slowakische Seite ist platt wie eine Flunder.

Unser Frühstück hatten wir noch vor der Grenze in dem Tesco-Supermarkt gekauft, wo gestern der Bayer beim Klauen erwischt worden war. Doch uns verschlägt es aus anderen Gründen dahin. Erstens lag es auf dem Weg zur Brücke, zweitens ist das Angebot hier schier unersättlich, wir überlegen so zum Beispiel , ob wir uns weiche Isomatten kaufen, weil es hin und wieder „ohne“ ziemlich hart und kalt auf dem Boden ist, aber wir richtigen Männer verwerfen diesen Gedanken schnell wieder. Gaskartuschen finden wir keine, auch wenn es hier sogar die passenden Kocher und sogar Lampen dafür gäbe. Drittens wollen wir hier Lebensmittel kaufen um sie nicht in der Slowakei kaufen zu müssen, wo wir extra slowakisches Geld abheben müssten.

Die Frühstückspause nahmen wir dann in den Überresten des römischen Militärlagers Kelemantia ein. Viele Schilder erklären uns,  wie sich hier das Leben vom 2. bis zum 4. Jahrhundert nach Christi abgespielt haben soll. Immerhin war es gefährlich auf dieser Seite der Donau, da man ja quasi im Feindesland war. Aber genau das war gewollt, denn auch für die Römer war eine Überquerung der Donau schwierig und es dauerte sicherlich lange, ein ganzes Heer hinüberzuführen. So hatte man dann alle Mann gleich beisammen und konnte jederzeit aufbrechen und Germanen aufschrecken.

Kurz hinter der archäologischen Fundstätte endet unser Deich und wir müssen auf einer Landstraße weiterfahren. Viel  Verkehr war zwar nicht, dafür fuhren die Wenigen recht rücksichtslos und dicht an uns vorbei. An  der Mentalität des Autofahrens kann man deutlich die unterschiedlichen Nationalitäten der Fahrer erkennen: In Ungarn fährt man sehr friedfertig, hingegen in Tschechien und der Slowakei viel aggressiver. In den folgenden Staaten festigt sich diese Theorie weiter. Ich werde sicher später noch darauf zurückkommen. Autofahrer stellen die größte Gefahr für uns dar – vermutlich ohne dass sie es merken oder uns absichtlich plagen -  und sind von Zeit zu Zeit ein Ärgernis, was einen das Blut kochen lässt.

So fahren wir von Dorf zu Dorf recht langweilig dahin. In Tankstellen versuchen wir nochmal Gaskartuschen zu finden. Doch auch in der Slowakei finden wir keine. Auf der anderen Donauseite, die wir immer im Auge behalten, sehen wir nun ein paar Hügel mit saftigen Anstiegen. Wir müssen dafür immer mehr Autos hinnehmen. Kurz vor Štúrovo wird aus der Landstraße eine Art Bundesstraße mit viel Verkehr. In Štúrovo sind wir schon fast wieder in Ungarn, die Mehrheit der Bevölkerung ist hier schon ungarisch.  Aber die Stadt verdankt ihren Namen einem Slowaken, welcher zu seinen Lebzeiten die slowakische Schriftsprache begründete.

Endgültig verlassen wir die Slowakei wieder gen Ungarn auf einer Brücke, die erst seit wenigen Jahren wieder steht. Davor war sie seit der Sprengung,  durch die auf dem Rückzug befindliche  Wehrmacht, nicht mehr vorhanden. Die schlechten ungarisch-tschechoslowakischen Beziehungen verhinderten lange Zeit den Wiederaufbau. Seit 2001 steht sie nun aber wieder und so kommen wir problemlos zurück nach Ungarn.

Vorher genießen wir aber erst einmal den tollen Blick über die Donau auf Esztergom, welches eine der ältesten Städte Ungarns ist und sogar mal Hauptstadt des Magyarenreichs war. Im Fokus steht dabei die eindrucksvolle und weithin sichtbare Basilika mit ihren markanten türkisenen Kuppeln. Es ist die größte Kirche Ungarns. Ihr zu Ehren wurde die Graner Messe von Franz Liszt komponiert, Gran ist der deutsche Name von Esztergom. In der Basilika hat seit 1000 Jahren der Erzbischof von Esztergom, der Primas der ungarischen Kirche, seinen Sitz. Beim Erinnerungsfoto fällt Konrad die DigiCam runter. Im ersten Augenblick stellt sie sich Tod, aber dann tut sie wieder ihren Dienst. Vorerst…

Esztergom lassen wir schnell hinter uns und fahren an Weinbergen aus der Stadt hinaus. Nach einem kurzen Pseudo-Radweg am Rande des Flusses, müssen wir wieder auf eine große Straße. Die Donau fließt hier nicht mehr so breit dahin, sondern wird von Bergen in ein Tal gezwängt. Auf der anderen Seite, die inzwischen nicht mehr slowakisch ist, entdecken wir bei einer kleinen Pause auch mal ganz ohne Reiseführer einige Höhlen in den Felswänden. Die Pause war nötig,  weil ein Knie von mir plötzlich und ohne ersichtlichen Grund schmerzt. Ich habe keine Ahnung was das soll, aber ich kann kaum noch treten. Ich beiße die Zähne zusammen und hoffe einfach, dass es wieder aufhört, will aber die Tagesetappe so schnell wie möglich hinter mich bringen.

Eine Flussbiegung weiter gibt es wieder etwas zusehen: Visegrad. Der Name klingt eher nach einem russischen Industriestandort, aber dahinter verbirgt sich wieder eine Stadt römischen Ursprungs. Hoch oben auf einem steilen Berg steht eine alte Burg. Erst dachten wir,  unsere Augen trügen,  doch tatsächlich hat man ihre verfallenen Mauern einfach mit Beton aufgefüllt. Wie kann man nur ein solches Kulturgut (hier lagerte zum Schutze, Jahrhunderte lang, die ungarische Krone) so verstümmeln?

Hinter Visegrad macht die Donau einen mächtigen Bogen in den Süden: Das sogenannte Donauknie erwartet uns. Seit Linz waren wir der Donau immer in Richtung Osten gefolgt, nun geht es direkt in den Süden.  Schon seit Urzeiten hat sich der Flusslauf hier diese Schlucht durch ein Gebirge gegraben. Die dunklen, dicht bewaldeten Berghänge und seltsam geformten Kalksteinfelsen bieten ein romantisches Bild. Davor hat sich die Donau in zwei Arme aufgeteilt, die zum Felsen kontrastreich, eine ganz flache Insel bilden, welche den unaussprechlichen Namen Szentendrei Sziget trägt.

Auf die Insel bringt uns eine kleine Fähre. Der Fährmann steht seinen freundlichen Landsleuten in nichts nach und besteht darauf,  die schwer beladenen Fahrräder aufs Boot zu schleppen. Außer ein paar kleinen Dörfern hat die flache Insel nur Felder. Die höchste Erhebung sind die goldgelben, aufgetürmten Strohhaufen. Autos gibt es fast keine und so fahren wir ungestört die 20 km lange Insel ab. Wir genießen noch einmal die Ruhe und die weite Landschaft, denn kurz vor uns liegt Budapest. Großstädte sind immer eine starke Belastung für uns. Zu Hektisch. Zu stressig. Zu schmutzig. Zu voll. Zu laut und zu viel Verkehr. Also noch einmal die Kräfte bei einem Eis sammeln.

Wieder bringt uns eine Fähre aufs Festland zurück. Und sofort beginnen die Ausläufer der Großstadt uns zu erschlagen. Wir folgen immer dem Radwegsymbol des „Euro 6“. Diesem schenken wir unser gesamtes Vertrauen auf dem Weg in die Stadt (und hoffentlich wieder hinaus, aber erst Morgen). Stur folgen wir der Beschilderung, nichts in Frage stellend, auch nicht als der Weg nur noch ein Trampelpfad ist,  durchs Unkraut führt. Dann wieder plötzlich durch eine Siedlung oder unter einer Autobahnbrücke hindurch. Im Gegensatz zu Wien haben wir heute aber ein Ziel: Auf der Karte ist nicht weit vom Flussufer entfernt ein Campingplatz eingezeichnet.

Als der Radweg ein Schotterweg wird, fordert mich ein Drei-Käse-Hoch zum Sprintduell heraus. Zwar habe ich so meine Mühe, die Tourenrad-Masse und meinen Körper zu beschleunigen, aber als ich meine Renngeschwindigkeit dann endlich erreicht hatte, musste er sich geschlagen geben. Yes! Einen Zehnjährigen besiegt!

Ein Kanal gibt uns das Zeichen: Hier muss der Zeltplatz irgendwo sein. Komischer weise sehen wir aber außer einer Plattensiedlung und einer 6-spurigen Straße nichts. Hier soll ein Zeltplatz sein? Aber nach einigem hin- und herfahren und dank der netten Ungarn finden wir den Platz schließlich. Direkt an der lauten Straße. Schwer eingezäunt und bewacht. Der Zeltplatz kostet wieder soviel wie letzte Nacht (umgerechnet 25 €), nur dass es dieses Mal kein Thermalbad zum Entspannen gibt. Aus Sicherheitsgründen bekommt man eine Karte. Nur mit der darf man den Platz betreten. Den Zaun krönt Stacheldraht. Wo sind wir hier?

Wir bauen unser Zelt auf. Direkt neben uns hat sich eine Horde amerikanischer Teenager aus einem Reisebus niedergelassen. Sie fahren über den gesamten Kontinent, von Metropole zu Metropole und von Land zu Land. Lernt man so Europa kennen? Zumindest kann man es nachher behaupten. Aber ganz cool stöckeln die Mädels mit ihren Absatzschuhen über die Wiese. Auch die Jungs stehen  ihnen in Punkto Eitelkeit in nichts nach. Die Boxershorts werden nur einmal getragen und dann in den Duschen zurück gelassen. Überhaupt verwüsten sie die Sanitäranlagen tüchtig. Als sie später  das Nachtleben von Budapest unsicher machen – auch da bringt der Bus sie hin – wird es ruhig und wie kochen unser Abendbrot. Also wie immer Nudeln. Den Kohlenhydratspeicher auffüllen. Doch heute werden die Ravioli nur lauwarm, denn dann ist unser Gas endgültig alle.

Ich mache mich nochmal auf den Weg und suche die Supermärkte und Tankstellen der Umgebung nach Gaskartuschen ab. Obwohl wir flexibel sind, was die Gaskartuschensysteme (Steck- und Schraubverschluss) angeht, ist nichts zu finden. Ach warum gibt’s denn hier nirgends einen GLOBETROTTER? Dort würde man alles finden was man braucht und noch so vieles mehr, was man erst braucht, nachdem man erfahren hat das es das überhaupt gibt. Ein Spielzeugladen für Erwachsene. Das nächste Mal kaufen wir vor so einer Tour einen Benzinkocher um noch flexibler zu sein, aber dann gibt es vielleicht nur noch Wasserstoff, Autogas oder Strom an den Tankstellen.

Um dem Frust Einhalt zu gebieten kaufe ich Gummibärchen und leckere weiße Schokolade.

 

# 12

Dienstag, 26.08.2008

Budapest – Ráckeve - Dunaföldvar

117,5 km

5:55 h

av. V = 19,7 km/h

↗ 30 hm

↘60 hm

av. P = 80 W

19°C - 31°C, sonnig

6787 HUF (Forint)

 

Was für eine unruhige Nacht: Auf der Straße hinter dem Stacheldrahtzaun fuhren die ganze Zeit  Rettungswagen mit einem nervenden und unberechenbar atonalem  Sound hin und her und her und hin und wieder zurück, dazu noch der normale Lärmpegel der stark befahrenen Straße und die Ungewissheit,  ob die amerikanischen Teenies von nebenan im Vollrausch, für den man in Europa nicht 21 Jahre alt sein muss,  die ein oder andere witzige Idee haben, was man mit unseren Fahrrädern oder dem Zelt anstellen könnte.

Früh brechen wir auf, gerade in der Rushhour von Ungarns Hauptstadt, welche aus den Teilen „Buda“ westlich der Donau und „Pest“ östlich der Donau besteht. Wir durchfahren die Stadt im Buda-Teil, erst weit im Süden müssen wir in den Pest-Teil wechseln.

Ich zitiere hier mal den bikeline-Reiseführer: „Budapest! Eine Weltstadt, eine Künstler- und Operettenstadt, oft besungen und ebenso oft mit den verschiedensten prosaischen Bezeichnungen bedacht. Eine Stadt, die jeden Besucher unweigerlich ins Schwärmen geraten lässt; man kann sie lieben oder hassen...“. So und da wären wir schon beim entscheidenden Punkt: Man kann sie hassen. Es ist also vollkommen legitim, was wir beim Durchkämpfen der Straßen fühlten: Hass. Ungarn war bis dato eine so tolle und landschaftlich wunderschöne Erfahrung, aber diese Metropole ist der Horror.  Eine Baustelle löste auf zig Kilometern die nächste ab, der Radweg existiert nur lückenhaft, oft  muss man sich in den stockenden Verkehr der Autos einreihen und dabei aufpassen,  nicht unter die Räder dieser zu geraten. Ständig unter Anspannung, der Blick nach links oder rechts ist kaum möglich, da immer Baustellen-Wände aus Holz die Sicht versperren. Es gibt kaum Orte an denen man die Möglichkeit des Verweilens hat, alles ist immer und überall in Hektik und Bewegung. Die Luft ist erfüllt vom Gestank der Busse und LKWs,  die im Stau stecken und vor sich hin knattern. Oft muss man Umwege hinnehmen um irgendwie in Richtung Süden zu kommen, um die Stadt endlich zu verlassen.

Im Zentrum haben wir dann doch auf ein paar hundert Metern eine Fußweg, wo wir stoppen können. Wir versuchen  Gebäude wie Fischerbastei, Burgpalast, Parlament und die Kettenbrücke zu entdecken. Und gerade das Parlament auf der anderen Donauseite in „Pest“ ist wirklich prachtvoll anzusehen. Hier machen wir unser Etappenfoto, was in jeder Hauptstadt die wir erreichen, fällig ist. Die Fischerbastei können wir leider nicht hundertprozentig identifizieren, da zu viele  Kirchen im vermuteten Gebiet von „Buda“ liegen.

Vielleicht wäre Budapest eine Reise wert, wenn man einen Hubschrauber hat oder auf einem Donaudampfer ganz in Ruhe die Stadt durch dampfert. Aber so? Niemals wieder. Budapest  ist für Radfahrer keine Reise wert! Und Nerven für Sightseeing haben wir sowieso keine mehr.

Von nun an wurde der Tag aber immer schöner, da es zwangsläufig ruhiger wurde. Am Rande  des Chaos stießen wir auf einen Baumaxx-Baumarkt, der sich schon über viele Kilometer in Form von überdimensionalen Werbetafeln an Hochhäusern angekündigt hatte. Die Werbung zog, denn wir versuchten und fanden hier unser Glück mit vollen Gaskartuschen. Mann,  was für ein Erfolg. Seit Tagen sucht man diese Kartuschen im ganzen Land und hier findet man sie. Wir kaufen gleich genug,  um bis Istanbul keine Sorgen diesbezüglich mehr zuhaben.

Vor dem Baumarkt besteigt neben uns ein Mann mit einer schrill-neon-gelben Warnweste gerade  sein Fahrrad, als er sieht,  dass wir uns mit der Landkarte in der Hand  fragend umsehen. Er bietet uns freundlich seine Hilfe an und spricht dabei in einem perfekten und akzentfreien  Deutsch. Eigentlich merkt man nur anhand des fehlenden Dialektes, dass er nicht aus Deutschland kommen kann. Und das tut er auch nicht. Er ist Ungar und hat sich die Sprache autodidaktisch beigebracht und nun ist er stolz wie Oskar, dass uns das so sehr beeindruckt und wir immer noch staunen. Ohne Probleme zeigt er uns den für Radfahrer schönsten Weg in Richtung Süden. Er führt uns entlang der bestimmt 60 Kilometer langen Flussinsel Csepel-Sziget, die von Norden nach Süden immer natürlicher wird. Am Anfang sind da noch Budapest und andere verkehrsreiche Städte, die man aber schon hin und wieder durch Dammwege gut meiden kann, später sind die Straßen schon so klein, dass man nebeneinander herfahren kann und ganz im Süden gibt es gemütliche Feldwege und gar keine Autos mehr, da das Ende der Insel für diese eine Sackgasse wäre. Auf einer Kreuzung machten wir Pause und hätten hier getrost unser Zelt aufschlagen können.  Es gab keine Fahrzeuge mehr, die uns gestört hätten und selbst wenn, man konnte jede Straße bis zum Horizont einsehen.  Radfahrer können die Insel an der Südspitze über eine kleine Schleuse verlassen.

Highlight der Insel war ein Militärflughafen, der uns allerdings wegen des Sperrgebietes wieder einen Umweg einbrachte, und ein scharf bewachtes Gefängnis. Ach wie schön man es doch hat, diesseits der Mauer in Freiheit  und ungehindert in den Abend  radelnd. Jeder hat es selbst in der Hand, was er aus seinem Leben macht.

 Die Stadt Ráckeve haben wir im Übrigen auch ungesehen umfahren, obwohl da das Schloss von Prinz Eugen von Savoyen zu finden ist. Wenn wir die Wahl hatten, fuhren wir nun immer durchs Grüne. Hin und wieder mussten wir stoppen und eine Schafherde samt Schäfer den Damm überqueren lassen. Da wir in Budapest viel Zeit verloren hatten, mussten wir uns ein wenig sputen,  um am Abend den geplanten Zeltplatz in Dunaföldvár zu erreichen.

Hier fahren wir nun immer auf einem Donaudamm an Wiesen und Feldern vorbei in Richtung Süden. Man wäre vermutlich auf der parallelen Straße um einiges schneller, schon weil die befestigt ist, aber dafür haben wir hier keinen Verkehr. Außerdem ist auch der Damm gut zu befahren, es holpert halt ein wenig mehr. Aber man kommt gut damit klar.

Um nach Dunaföldvár zu gelangen, mussten wir uns noch einmal in den direkten Straßenverkehr einmischen. Anders wären wir nicht auf die Donaubrücke gekommen. Die Donau sieht man übrigens außer in den Städten eher selten. Die Ufer sind bewachsen und oft ist zwischen Damm oder Deich noch ein kleiner Wald. Die Brücke war alles in allem fast zwei Kilometer lang, da sie auch eine kleine unbewohnte Insel überspannte und so kamen wir beim drüber sprinten nochmal ganz schön außer Atem.

Dunaföldvár machte auf den ersten Blick nicht viel her, aber es hatte einen Campingplatz. Doch bevor wir den aufsuchten, mussten wir Essen kaufen. Zum ersten Mal auf der Tour wollten wir etwas Richtiges kochen, das über Nudeln hinausging: ein Paprika-Chilli. So kauften wir in einem kleinen SPAR Hackfleisch, Bohnen, Reis, Mais, Paprika (Paprika musste in Ungarn sein, obwohl wir außerhalb der Supermärkte noch keine gesehen hatten)und Öl. Die ganze Zeit wurden wir dabei auffällig von einem Warenhaus-Detektiv verfolgt und beobachtet. Sahen wir aus, wie Leute die Klauen müssen? An der Kasse bezahlte ich mit der größten verfügbaren Banknote um das Gegenteil zu beweisen.

Der Zeltplatz liegt direkt an der Donau ein wenig versteckt und war recht klein. Wir suchten ihn eine Weile. Die Rezeption war nicht mehr besetzt, aber ein mitteilungsbedürftiger, deutscher Wohnmobiler erklärte uns,  die würden morgen um 8 Uhr wieder besetzt sein. Da wollten wir eigentlich schon wieder weiter fahren, sagen wir ihm. Er antwortet trocken: „Pech für euch … oder sie“. Er schien also indirekt einverstanden damit zu sein, dass wir hier mal nicht bezahlen. Und selbst wenn, so teuer wie die Nächte zuvor würde es hier im Niemandsland sicher nicht werden.

Wir stellten unser Zelt direkt an einer Steckdose auf, um so unsere Handys und die DigiCam aufzuladen, nebenan konnten wir uns und unsere Klamotten waschen. Anschließend kochten wir das vorzügliche Mahl mit unserem neuen Gas. Der Wohnmobiler erzählte uns haarklein jedes Detail seines komplett langweiligen Urlaubs, aber wir wollten nicht unfreundlich sein und ihn unterbrechen. Später redete er aber immer mehr Unsinn, so zum Beispiel, dass es überall in Ungarn an den Tankstellen Camping-GAZ (ein Markenname) gebe oder das unser Mückenmittel  „Autan“ im Ausland nicht wirken würde, weil es in jedem Land andere Mücken gibt, die man mit einem anderen Mittel vertreiben müsse. Bei uns jedenfalls funktionierte das heimische Autan super und Gaskartuschen gibt es nicht überall an den Tankstellen, sondern wenn dann nur in Baumärkten. Punkt.

Am Abend als eigentlich der Tag zu Ende war, verspürte ich noch Kräfte und die ruhige Nacht lud mich zu einem Spaziergang ein.  Ich ging die Donau entlang nach Dunaföldvar hinein. Das Städtchen hatten wir heute unterschätzt. Schmucke gepflasterte Gässchen führen auf einen kleinen Berg, wo eine Burg thront. Vor der Burg ist ein großes, hölzernes Burgtor welches offen dasteht. Von der Burg aus kann man auf die nächtliche Donau blicken. Alles  ist hier so unendlich friedlich und ruhig. Es ist eine wunderbarere und milde Sommernacht. Kein Vergleich zu Budapest. Auf dem Rückweg entdecke ich noch kleine mittelalterliche Kirchen und die Stadtmauer, sowie einen weniger hohen als viel mehr breiten Turm, den „türkischen Turm“.

Als ich wieder auf den Zeltplatz komme ist das Zeltplatztor verschlossen.  So will man uns wohl zwingen, auf die Rezeptionsbesetzung zu warten. Niedlich,  denn die Tür daneben, wo man locker ein Fahrrad durchschieben könnte, steht weiterhin offen.

Neben unserem Zelt haben andere Radfernreisende ihr Nachtlager aufgebaut. Es sind Belgier, die viel besser ausgerüstet sind als wir. Der Besserwisser hält ihnen gerade einen Vortrag über die EU-Politik und Deutschland und dass die EU wie Deutschland sein solle…  Hoffentlich nehmen sie ihn nicht als typisches Beispiel für einen Deutschen wahr.

Den Wecker stellen wir auf 6:30 Uhr – am nächsten Tag wollten wir viel schaffen.

Die Etappe heute war flach wie Holland, überhaupt die flachste Etappe der gesamten Tour. Die 30 Höhenmeter resultieren allein aus Deichauffahrten.

 

#13

Mittwoch, 27.08.2008

Dunaföldvar – Pacs - Kalocsa – Baja - Dunafalva

117,9 km

6:02 h

av. V = 19,5 km/h

↗ 162 hm

↘144 hm

av. P = 60 W

16°C - 32°C, Sonnig, heiß

16585 HUF (Forint)

 

Um die Zeltplatzgebühr zu sparen, sind wir schon vor Tau und Tag wieder auf den Beinen oder besser auf dem Rad. Außerdem wollten wir heute bis an die kroatische Grenze kommen, vielleicht sogar dahinter zelten und deswegen mussten wir früh raus.

Direkt neben dem kleinen Zeltplatz, wo wir die Nacht verbrachten, ist eine parkähnliche Anlage mit einem Denkmal, welches die Sowjetzeit-Symbole Hammer und Sichel auf rotem Stein zeigt. Dieses Relikt längst vergangener Tage ist mir natürlich sofort ein Foto wert. Doch aus dieser Erinnerung wird leider nichts: Die Digitalkamera scheint kaputt zu sein, sie verweigert mit dem Hinweis auf eine “Objektivstörung“ den Dienst und summt nur noch. Wir sind beide nicht abergläubisch, aber die Kombination aus Zeltplatzgebühr unterschlagen und 100 Meter später einer wie von Geisterhand defekter Digitalkamera ist schon ominös. Gut, Konrad ist sie in Esztergom beim fotografieren der Basilika runtergefallen, aber danach hat sie noch zwei Tage lang makellose Fotos geschossen und keine Andeutung auf einen Schaden gegeben. Meine Laune ist sofort beim Nullpunkt angekommen und ich weigere mich,  die Stadt zu verlassen, ohne das Problem zu lösen. Wir befinden uns hier Mitten auf einer Radtour von Dresden nach Istanbul, für uns ist es ein einmaliges Erlebnis, das nie wieder kommen wird. Wir fahren täglich durch einen Teil von Europa, den wir nicht kennen. Fast stündlich entdecken wir Unbekanntes und Neues. Der Gedanke daran, dass es davon später keine Erinnerungsfotos geben könnte, blockiert mich. Konrad reagiert besonnener: Wir sollten erstmal frühstücken und dann nochmal probieren ob sie wieder geht. Vielleicht, so seine Hoffnung, hat sich nur Kondenswasser angesammelt. Früh genug wäre es ja und sie geht dann wieder.

Sie ging nicht wieder. Nach dem  Frühstück, was zwar unser ehrgeiziges Tagesziel schon am Morgen undenkbar werden ließ, aber dafür angenehm ausgiebig war, gab die Kamera noch immer kein Lebenszeichen von sich. Ich machte mich daher auf ins Stadtzentrum von Dunaföldvar auf die  Suche nach einem Fotofachgeschäft, was ich auch sofort fand. Der Verkäufer machte sich alle Mühe und untersuchte die Kamera gewissenhaft. Er machte mir verständlich, dass er die Kamera einschicken müsse, da er sie hier nicht reparieren kann.  Das Objektiv sei gebrochen. Er bietet mir sogar an, sie nach erfolgreicher Reparatur nach Deutschland zurückzuschicken, aber das ist mir zu umständlich und außerdem kann ich dann auch keine Fotos der Radtour machen. Zu seinem ersten Geschäft am Morgen kommt er dennoch: Ich kaufe nämlich die preiswerteste Kamera,  die er im Angebot hat. Für 30€ sind wir nun stolze Besitzer eines Fotoapparates, in den man zwar noch Filme einlegen muss, der aber angeblich super Fotos macht. 3 Filme habe ich noch kostenlos dazubekommen.   Gut – die Reise kann meinetwegen weiter gehen.

Unsere Laune hellt sich heute dennoch nur langsam auf. Wir fragen uns zum Beispiel ob die Röntgenstrahlen am Flughafen die Filme zerstören können und ob wir überhaupt einen solchen Film in den Apparat einlegen können. Gemacht haben wir beide so etwas noch nie.

Unser gemütliches dahin rollen, endet 20 Kilometer später kurz vor Paks. Wir sind westlich der Donau geblieben und hier auf ruhigen Straßen durch kleine Dörfer gefahren. Jetzt endet dieser Weg auf einer stark befahrenen Straße, die zudem noch ein Schild aufweist, das einem das Befahren mit Traktor, Kutsche und Fahrrad verbietet. Bis zur Fähre,  die uns wieder auf die andere Flussseite bringen soll, sind es zwar nur 5 Kilometer, aber dennoch entscheiden wir uns lieber einen Umweg in Kauf zunehmen. Deshalb fahren wir eine kleine Dorfstraße auf einen Bergrücken hinauf, der ungefähr in der angestrebten Richtung liegt. Die Straße wird zum Wiesenweg und oben angekommen, scheinen wir in einer anderen Welt zu sein. Ein verfallener Bauernhof,  auf dem alle Haus- und Hoftiere die man so kennt, frei umherlaufen: Hunde und Katzen, Hühner, Esel und auch Schweine scheinen hier ungestört zu wohnen. Diese Bild wird das erste Motiv mit unserer  neuen “FujiFilm ClearShot 70AF mit vollautomatischer Blitzlichtfunktion“ Es scheint funktioniert zuhaben. So klang es zumindest früher immer, wenn eine Ahne ein Foto schoss.

So steil wie es auf den Berg hochging, so steil ging es auch wieder auf der anderen Seite hinunter und wir landeten genau an der Fähranlegestelle. Hier müssen wir ungewollt länger pausieren, denn  die Fähre fährt nur stündlich über die Donau und für uns wird leider keine Ausnahme gemacht. So sitzen wir fast eine Stunde in der Sonne und harren der Dinge,  die da kommen. Unser Etappenziel ist längst schon unmöglich geworden, trotz des zeitigen Aufstehens am Morgen sind wir mittags gerade einmal 25 Kilometer weit gekommen.

Die Fährfahrt ist wie immer sehr schön, wir lieben es beide sehr, wenn man an der Reling steht und dem Wasser zusieht, wie es am Boot kleine Wellen bildet und der Wind sanft die Haut streichelt. Außerdem sind die Fährleute sehr nett zu uns und die Überfahrt kostet wenig.

Unser nächstes Ziel ist Kalocsa. Kalocsa ist eine der ältesten Städte Ungarns und wird heute als DIE Paprikametropole bezeichnet. Alles dreht sich um das rote Gold, wie Paprika angeblich hier genannt wird. Endlich wird unser Bild von Ungarn bestätigt:  Überall sind kleine Felder auf denen die roten Dinger wachsen. Sie sind viel kleiner als im Supermarkt. Es handelt sich hier um „spanischen Pfeffer“ eine besondere Edelpaprikasorte, welche als Gewürz verwendet wird. Wir pflücken zwei Paprika, trauen uns aber nicht, hineinzubeißen, da sie genau wie Chili aussehen. Dass die Leute hier in der Gegend hundertprozentige Paprika-Fans sind, sieht man jetzt überall: Fast vor jeden Haus trocknen die zu Girlanden aufgefädelten  Schoten in der Sonne. Wir haben scheinbar genau die richtige Jahreszeit erwischt um in dieser Gegend zu sein.

Da die Sonne mal wieder kräftig von oben knallt, quetschen wir uns im Schatten der Häuser auf dem Fußweg aus der Stadt hinaus. Wobei man bei Kalocsa eher von einem großen Dorf reden muss. Wie eine Stadt wirkt es jedenfalls nicht.

Kurze Zeit später, irgendwo südlich von Kalocsa, wird die Karte wiedermal etwas undeutlich und wir finden die geplante Route nicht. Stattdessen fahren wir durch Paprika-,  Mais-  und Tomatenfelder. Durch die Sonne sind die Tomaten sogar angenehm warm beim Essen. Die Wegqualität wird nun immer schlechter und irgendwann endet der Weg gänzlich. Querfeldein, erst zwischen Paprikareihen, später durch stachliges Unkraut schieben wir das Rad. Ein Bauer gießt gerade seine Felder und scheint nicht sonderlich verwundert zu sein, dass wir hier so an ihm vorbeikommen. Ein paar Kilometer weiter, wir sind wieder auf einen Donaudeich gekommen, rasten wir unter einer schattenspendenden Brücke. Allerlei Grußworte in vielen verschiedenen Sprachen – auch in Deutsch – zeugen hier von einigen Radreisenden, die vermutlich auch alle an dem Bauern vorbeigekommen sind. Der Gedanke liegt nahe, dass sie alle mit demselben Kartenmaterial ausgestattet waren und deshalb wie wir, eher unfreiwillig, hier gelandet sind.

Ab der Brücke ist der Weg auf dem Deich nun sogar asphaltiert und so kommen wir zügig voran. Kurz vor Baja wird der Weg breiter, Wochenendhäuser säumen den Weg und die Silhouette der beginnenden Stadt. Auf der westlichen Seite der Donau, also hinter der Donau von uns ausgesehen, sieht man den Donau-Drau-Nationalpark, ein unberührtes Naturreservat, das am ehesten an den Amazonas mit seinen vielen Flussarmen erinnert.  Vermutlich gibt es dort drüben aber auch unendlich viele Mücken und deswegen sind wir hier ganz gut aufgehoben.

In Baja eintreffend, suchen wir als ersten den hiesigen TESCO-Super-Super-Supermarkt auf. Es ist schön, dass es die hier in jeder größeren Stadt gibt und so tanken wir erst einmal Lebensmittel und Getränke auf. Wir geben dabei fast alle Forint aus, aber das ist nicht weiter schlimm, da wir am nächsten Tag ja Ungern verlassen werden.

Im 18. Jahrhundert wurden in Baja deutsche Handwerker, sogenannte Donauschwaben, angesiedelt. Spuren davon bekamen wir davon aber leider nicht zu Gesicht.

Von nun an ging es nur noch schleppend voran, trotz des guten Deichweges. Der Tag neigte sich dem Ende und er war trotz seines flachen Charakters, aber eben wegen seiner Hitze, der langen Schiebepassage durchs Paprikafeld und nicht zuletzt den Verlust der Digitalkamera, die ja viel Geld gekostet hatte, sehr anstrengend gewesen. Etwa 20 Kilometer hinter Baja in dem kleinen Dorf Dunafalva ist Schluss. Wir haben einen kleinen Zeltplatz gefunden, der recht preiswert ist und zwischen Deich und Donau in einem kleinen Wäldchen ungestört liegt.  Das Abendessen beschränkt sich heute spartanisch auf Nudeln. Die Sanitäranlagen sind – und wir haben wirklich gar keine Ansprüche – grausig. Die Dusche scheint auch Klo zu sein und das Wasser tröpfelt eiskalt aus einem Rohr. Da ist Wildcampen hygienischer.

Abends, es ist schon dunkel, machen Jugendliche Party an einem kleinen Donausandstrand, so haben wir leise Musik zum einschlafen. Morgen geht’s nach Kroatien!

 

#14

Donnerstag, 28.08.2008

Dunafalva - Mohács - Osijek (HR) - Vukovar

142,5 km

6:48 h

av. V = 21,0 km/h

↗ 189 hm

↘173 hm

av. P = 80 W

15°C - 29°C, warm, diesig

1924 HUF (Forint)

& 541HRK (Kuna)

 

Wieder brechen wir heute Morgen früh auf. Auch das Frühstück wird, wie immer, weit nach hinten geschoben.

Es ist ein wunderbarer Morgen: Vom Deich, der höchste Erhebung bis zum Horizont, kann man weit ins Land blicken, doch direkt am Fuß des Deiches schmiegt sich ein sanfter Nebel an die Sträucher und Häuser. Nur die Schornsteine kann man klar erkennen. Dunafalva schläft noch friedlich. Die 12 Kilometer auf dem Deich bis zur Fähre nach Mohacs vergehen unheimlich schnell, man hätte es eigentlich gestern Abend noch locker schaffen können. Rückblickend gesehen.

Wir hatten ein wenig bedenken, ob denn die Fähre so früh am Morgen schon fährt, doch sie fuhr. An der Fähranlegestelle wird sie auch schon von ein paar Autos, Leuten die auf Arbeit wollen und Kindern die in die Schule gehen, erwartet. Erst wird die recht große Fähre mit den Autos beladen, dann erst kommen die Fußgänger und Radfahrer. So merken wir erst viel zu spät, dass man das Ticket für die Überfahrt an einem Kiosk hätte kaufen müssen. Doch wieder einmal beweisen sich die Ungarn als freundliches Volk, man fährt uns auch ohne Ticket. Der Tag geht super los.

In Mohacs kaufen wir uns Frühstück, eine BILD-Zeitung (Asche über unser Haupt) und einen Spiegel. Am Straßenrand setzen wir uns in eine Wiese, frühstücken und verzehren jede Nachricht aus der Zeitung. Seit Bad Leonfelden, also vor 8 Tagen, haben wir keine Nachrichten aus Deutschland und der Welt mehr erfahren.

Am Rande der Stadt Mohacs fanden große Schlachten statt: 1526 besiegten die Osmanen hier die Ungarn und gliederten weite Teile des Landes ins Osmanische Reich ein. 1687 besiegten die Habsburger hier wiederum die Osmanen im Rahmen des Großen Türkenkrieges, von da an waren die Ungarn österreichisch.

Von Mohacs aus fuhren wir auf einer großen, aber wenig befahrenen Straße gen Kroatien. Erste Wachtürme zeigten an, dass es bis zur Grenze nicht mehr weit sein kann. An der Grenzstelle Udvar bekommen wir endlich unseren ersten Stempel in den Reisepass, überhaupt war es unsere erste Grenzüberfahrt, wo wir einen Grenzbeamten zu Gesicht bekamen: Nach 14 Tagen und 6 Grenzübertritten.

Hinter der Grenze verfahren wir uns erst einmal richtig an der erstbesten Möglichkeit. In der Orientierungsphase versuchen wir dann auch den Film des Fotoapparates zu wechseln.  An der Grenze schien es mir nämlich so, als ob das obligatorische Grenzfoto nichts geworden sei.  

 Und tatsächlich war der Film schon voll. Sage und schreibe 10 Bilder passten auf diesen Film, die 2 GB SD-Speicherkarte meiner Digitalkamera lacht sich in der Packtasche schlapp, als sie das hört.

Wir fahren nun seit Tagen mal wieder durch hügeliges Terrain. Der Weg führt kurvenreich bergauf durch Obstplantagen und Weinberge, hier soll wohl eine der bekanntesten Weinregionen Kroatiens sein. Auch wenn der Bikeline-Reiseführer damit dieses mal über- statt untertreibt: 3 Anstiegssymbole in der Karte  haben wir nach knapp 5 Minuten eher spielend, statt schwitzend,  überwunden. Nur Konrads Fahrrad fängt an,  Probleme zumachen: einige Ritzel scheinen nicht mehr richtig zu greifen. Manchmal tritt er komplett ins Leere, was am Berg, auch an kleinen, leidlich nervig ist. Anschließend geht es steil und auf schlechtem Kopfsteinpflaster zurück hinab auf das Niveau der Donau. Wir kommen in die serbisch-kroatische Grenzstadt Batina, doch bleiben noch lange auf der kroatischen Donauseite.

Reine Radwege finden wir in Kroatien nicht vor, aber dafür eine durchgängige Beschilderung die den Weg auf der „Ruta Dunav“ sehr gut weist. Der Verkehr auf den 40 Kilometern zwischen Batina und Bilje ist schwach und so ist es von der Seite gesehen ein angenehmes Fahren. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln ist perfekt, da in jedem noch so kleinem Ort winzige Lebensmittelläden, namens “Bilie-Market“, zu finden sind ,in denen wir Essen, Trinken und heute auch Klopapier kaufen können. Leider gab es nur eine große 12er Packung, die wir dann recht sperrig über den Gepäckträgertaschen und dem Zelt befestigen. Bezahlt wird hier in “Kuna“, was mich auf Grund meines  Nachnamens Kuna(th) freuig stimmt: Eine Währung die ganz offensichtlich mir zu Ehren so heißt, wie sie heißt. Vielleicht kommen wir irgendwann ja mal in ein Land, wo man Konrads wegen mit Zierolen bezahlt. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht.

Die Ortschaften hier sehen größtenteils sehr ärmlich aus. Wir sehen viele Häuser die teilweise  schon zusammen gefallen sind und in denen dennoch Menschen leben. Zudem liegt sehr viel Müll und Unrat in den Höfen,  in denen die Kinder spielen und über denen die gewaschene Wäsche im Rauch des Feuers trocknet. Die Kinder freuen sich, wenn sie uns sehen und begrüßen uns euphorisch. Einmal werden wir auch angebettelt, ein paar Jungen rennen neben uns her, lachen sich dabei aber schon über ihren Versuch kaputt. Ernst gemeint war es nicht. Dennoch kann man sich nicht vorstellen, dass der Westen des Landes sehr viel reicher ist und trotzdem hier scheinbar kein Geld davon ankommt.

Da wir gut in der Zeit liegen,  machen wir heute wieder einmal eine richtige Mittagspause,  inklusive Nudelkochen und nochmaliger Zeitungslektüre.

Von Bilje an über Osijek bis Vukovar müssen wir dann einer großen und verkehrsreichen Bundesstraße folgen, alternative Wege gibt es nicht. Kurz vor Osijek sehen wir im Wald und auf Brachland immer mehr Schilder die vor Landminen warnen. Wir wussten, dass um Osijek zwischen 1991 und 95 im kroatischen Unabhängigkeitskrieg quasi ein geschlossener Minengürtel angelegt wurde, dennoch wird das Bauchgefühl immer bedrückender. Das hier ist kein Spaß mehr. Wenn man hier vom Wege abgeht um im Wald oder auf einer Wiese zum Beispiel sein Zelt aufzuschlagen, kann man diese Leichtsinnigkeit schnell mit dem Leben bezahlen. So stellt sich mir auch nicht die Frage, wo ich mein großes Geschäft verrichte: AUF dem Weg, egal ob hier irgendjemand jetzt meinen nackten Hintern sieht. Die Totenkopfschilder und Teiche in Kraterform sind real.

Osijek – die Hauptstadt Slawoniens, dem Landstich den wir hier durchfahren – liegt an der Drau, einem ordentlichen Zufluss zur Donau, hat einen recht großen Hafen und weitere Kriegsspuren.  Kurz hinter der Stadt liegt Nemetin, hier wurde 1992 der größte Gefangenaustausch vorgenommen, ein Denkmal erinnert an jenen Tag.

Die 45 Kilometer von Osijek zum Tagesziel Vukovar auf der teilweise verkehrsreichen Straße sind eher langweilig, es sei denn man ist Fan von Ackerbau und Landwirtschaft. Ostslawonien ist die Kornkammer Kroatiens und so gibt es hier außerhalb der Städte nur Wiesen und Felder zusehen. Die Donau haben wir über 100 Kilometer bis nach Vukovar hinein nie zu Gesicht bekommen. In Vukovar selber stellt sich uns die Frage, wo wir heute Nacht schlafen:  Zeltplätze sind weder auf Straßenschildern, noch in unsere Karte vermerkt und wildcampen kommt bei der Minengefahr absolut nicht in Frage. Also suchen wir uns eine Unterkunft und finden schnell ein Hotel, das Hotel Dunav. Die 2 Sterne an der Tür verraten uns, dass wir hier allem Anschein nach eine Unterkunft unserer Preisklasse gefunden haben und da es schon recht spät ist, nehmen wir ein Zimmer. Der Hotelmanager, welcher  auch nicht einen Kuna von seinem anvisierten Preis abweichen wollte, scheint seine Gäste je nach Herkunft unterschiedlich abzukassieren: Wir, Deutsche, bezahlen den stolzen Preis von umgerechnet 60€ für die Nacht. Wofür? Erst in dem schäbigen Zimmer fällt uns das Ausmaß der Abzocke auf. Egal. Wir haben einen schönen Blick auf die Donau, unsere Fahrräder sind in der Werkstatt des Hotels eingeschlossen und wir können ungestört im Zimmer unseren Gaskocher aufbauen, Würstchen kochen und Konrad trinkt ein paar Schlucke einer unsagbar ekelhaften Cola. Nebenbei läuft das UEFA-Cup- Spiel  Hajduk Split gegen Deportivo La Coruña, die Kroaten verlieren am Ende mit 0:2 und scheiden aus.

Am Abend gehe ich noch eine Runde durch die Stadt spazieren  (Konrad liest indes den Spiegel an einem Tag komplett durch )  und sehe auch hier wieder schreckliche Spuren des Krieges: Direkt neben dem Hotel ist eine Art Stadthalle deren Wände komplett von Einschusslöchern durchsiebt sind. In der Schlacht um Vukovar hat ein großes Regiment der Jugoslawischen Volksarmee 87 Tage lang die Stadt belagert und unter Dauerfeuer genommen und dabei fast vollständig zerstört. Anschließend marschierte die Armee ein, trieb einen Teil der verbleibenden Bevölkerung zusammen, verfrachtete sie in einen Schweinestall und töte 200 Menschen davon in einem Massaker. Die anderen wurden in serbische Internierungslager gebracht.

Konrad und ich, wir beide hatten noch nie Spuren eines Krieges so deutlich und nah gesehen, der 2. Weltkrieg ist lange her, Dresden glänzt längst wieder im alten Licht, doch hier in Kroatien spürt man auf Schritt und Tritt die abscheuliche Gewalt und uneingeschränkte Zerstörung  die ein Krieg auslöst. Und vermutlich hat jeder Kroate, der über 30 ist und dem ich hier über den Weg laufe, selber mitgekämpft und seine Stadt versucht zu verteidigen.

Beim zurückkommen ins Hotel merke ich dann auch, dass wir wohl das beste Hotel der Stadt ausgewählt haben. Zumindest was die Lage angeht: Am Platz der Republik Kroatien, 1.

 

#15

Freitag, 29.08.2008

Vukovar - Novi Sad (SRB)

87,5 km

4:03 h

av. V = 21,5 km/h

↗ 556 hm

↘550 hm

av. P = 100 W

21°C - 33°C,

in Kroatien: bedeckt, in Serbien: sonnig

35 HRK (Kuna)

& 4520 RSD (Dinar)

 

Der heutige Abschnitt soll uns nun nach Serbien bringen. Der Plan sieht die rund 80 Kilometer bis Novi Sad vor. Mehr nicht, denn gestern haben wir mehr geschafft als erwartet. Vor Serbien hatten wir beide (aber Konrad noch ein bisschen mehr) ein ungutes Gefühl:   Es  waren auch deutsche Kampfjets,  die 1999, also vor nicht einmal zehn Jahren, die Städte Novi Sad und Belgrad bombardiert hatten. Außerdem kam es im Februar des Jahres unserer Reise zur Abspaltung des Kosovo von Serbien, was die serbische Regierung nicht akzeptierte, unsere Bundesregierung  hingegen schon. Wir wussten also nicht,  was die Serben von Deutschen halten und beschlossen, uns im Zweifel  als Schweizer auszugeben. Auf  jedem Fall  wollen wir politische Diskussionen meiden.

Der Tag selber begann aber damit, dass es in der Nacht zum ersten Mal seit einer Woche wieder geregnet hat und wir im Hotel geschlafen und somit alles richtig gemacht hatten.

Das Frühstück im Speisesaal des Hotels war dann unterstes Jugendherbergsniveau. Es gab Brot, Butter und einen Teller mit Wurst und Käse. Für alle Hotelgäste. Gut, der Teller wurde nachgefüllt, wenn er leer war, aber das konnte auch mal zehn Minuten dauern. In jedem Fall war es dem Preis und uns Radfahrern  nicht angemessen. Zur Strafe essen wir einfach unendlich lang und unendlich viel. Das Gute nach 2 Wochen Radfahren ist nämlich, dass man sehr viel essen kann. Der Körper verbraucht den ganzen Tag über Energie, die er aber nur früh und abends bekommt, folglich muss der Magen zu diesen Mahlzeiten bereit sein, genügend aufzunehmen. Und an diesem Morgen haben wir für Zehn gegessen.

So brechen wir auf und verlassen Vukovar. Wir sehen noch einmal zerstörte Häuser und zum ersten Mal das Wahrzeichen der Stadt: Den zerschossenen  Wasserturm von Vukovar, das Mahnmal für diesen allgegenwärtigen Krieg. Oben drauf weht eine riesige kroatische Fahne im Wind. Man wird den Turm mit seinen riesigen Granattreffern nicht sanieren oder gar abreißen, denn inzwischen erkennt man seinen Wert als Postkarten- und Souvenirmotiv.

Die zirka 25 Kilometer sind sehr bergig, immer wieder fahren wir steile Berge hinauf,  um sie auf der anderen Seite wieder runterzufahren. Zwei andere Radreisende fahren auch gerade diese Strecke, so fahren wir quasi zusammen, aber ohne  es zu planen oder auch nur ein Wort zu wechseln. Als sie in einer Kneipe frühstücken, fahren wir alleine weiter. Wir hatten ja schon ausgiebig Brot mit Wurst und Käse. Konrad hat wieder seine Probleme mit der Schaltung. Kurz vor der Grenze halten wir wieder an einem kleinen Bilie-Market und geben unsere letzten Kunas für Eistee und gefüllte Croissants aus und essen sie gleich auf einer Bank vor dem Laden.

Ein alter, sehr alter Mann kommt,  beginnt unsere Fahrräder zu untersuchen und befindet sie als „sehr  stark“. So kommen wir ins Gespräch. Als er erfährt, dass wir Deutsche sind, erzählt er uns, dass er in den 80ern für ein paar Jahre in Deutschland, bei Stuttgart,  gewohnt und gearbeitet hat. Er war dort als Mauerer auf einer großen Baustelle beschäftigt und grübelte lange über den Namen der Firma, aber es fiel ihm nicht ein, was aber auch egal ist. Es hatte ihm in Deutschland sehr gefallen, das merkte man ihm an. Jetzt ist er wieder in seiner Heimat Ilok und baut Mais an. Die Stadt zeigt ein weiteres typisches kroatisches Merkmal: Viele Häuser sind unverputzt und stehen fast wie im Rohbau da. Aber es wohnen schon Menschen darin. Nun könnte es sein, dass es zurzeit günstig ist,  Häuser zu bauen, aber nein: Ein anderes Motiv liegt dem zu Grunde: Häuser ohne Putz sind steuerlich noch keine Häuser und somit spart man Geld, wenn man sie nicht verputzt. Und so sind viele Häuser unfertig und werden es vielleicht auch für immer bleiben.

In Ilok hätten wir auch auf die andere Donauseite mit der Fähre wechseln können, bleiben aber lieber am verkehrsarmen Südufer.

Die Zivilisation endet hier in Ilok, ein sicheres Indiz dafür, dass wir uns wieder einmal einer Grenze nähern. Die Straße ist unbefahren und führt kurvig durch ein kleines Tal, in dem die Natur ungehindert wuchert. Auffällig viele Schmetterlinge wuseln um uns herum. Ihnen scheint das schwül-warme Klima zu gefallen. Die Grenze selber ist enttäuschend unauffällig, nur ein kleines Haus steht da und ein Schlagbaum versperrt die Durchfahrt. Der bewaffnete Grenzbeamte kontrolliert unsere Reisepässe ausgiebig. Er fragt Konrad: „And where are you going?“, Konrad antwortet: „To Istanbul, Turkey“ und der Grenzbeamte mit ernster Mine: „Today?”… Man, was der uns alles zutraut… Als wir unser Tagesziel auf Novi Sad reduzieren, bekommen wir den Einreisestempel für Serbien. Hier hat man also erst einmal keine Probleme mit Deutschen.

Serbien selber beginnt erst einmal damit, dass an den Straßenrändern alles voller Müll ist, der zudem noch hier und da vor sich hin kokelt und raucht. Warum die Serben das so machen, erschließt sich uns nicht. Mülltonnen gibt es jedenfalls auch. In einer Kurve überfahre ich fast einen winzigen Hund der auf der Straße liegt.  Im ersten Moment dachte ich, dass er schon Tod ist. Aber bei genauerer Untersuchung stellte ich fest, dass er es sich einfach auf dem warmen Asphalt gemütlich gemacht hat und hier sein Mittagsschläfchen hält. Der Hund war unglaublich winzig, vielleicht 10 Zentimeter lang. Da er hier in einer Kurve der Straße liegt und sich dessen nicht vollständig bewusst ist, mit seinen 1 oder 2 Wochen Lebensalter, hebe ich ihn von der Straße weg ins Gras am Rande. Doch da gefällt es dem süßen Winzling leider nicht, er trottet mit ca. 0,1 km/h tollpatschig auf die Straße zurück. Tollpatschig ist übrigens ein ungarisches Wort, welches in die deutsche Sprache übernommen wurde. Diese Info hätte besser in den Ungarn - Teil des Reiseberichtes gepasst, sei es drum. Den Hund jedenfalls hätte ich am liebsten mitgenommen, doch das geht ja leider nicht. Ich bilde mir einfach ein, dass er von keinem Auto überfahren wurde und noch ein langes Leben vor sich hat.

Wir nähern uns Novi Sad also vom Südufer her und fahren über eine Brücke auf den Nordteil der Stadt, welcher auch viel größer und überhaupt der Hauptteil Novi Sads ist. Auf unserer Seite ist eigentlich nur die alte Festung Petrovaradin.

Man kann deutlich Reste einer kaputten Brücke sehen, die hier vor 10 Jahren noch stand. Wie bereits erwähnt,  wurde Novi Sad 1999 von der NATO bombardiert.  Dabei wurden auch zwei Brücken getroffen. Dieser Angriff war der schwerste Angriff, den Novi Sad jemals erlebt hat und die Bewohner waren damals sehr verwirrt, warum ihre Stadt unter dem Krieg zu leiden hat. Es  spielten sich doch die eigentlichen Kämpfe des Kosovokrieges ganz im Süden des Landes, eben im Kosovo ab. Doch die NATO wollte auf die serbische Führung Druck ausüben und so wurde die Stadt eben bombardiert. Auch von Deutschen und das vor gerade einmal 9 Jahren. Wir verzichten daher auf das hissen unserer deutschen Fahne.

Für Novi Sad hatten wir uns vorher via SMS über Jugendherbergen informiert, denn entweder man meldet sich in Serbien jede Nacht bei der ortsansässigen Polizei an oder aber man geht in ein Hotel, oder eben in eine Jugendherberge, dann macht das der Herbergs-Chef für einen. Als wir die Jugendherberge schließlich finden, hat diese aber für immer geschlossen. Stattdessen ist dort jetzt eine Schule oder ein Kindergarten drin. Wo sollen wir nun bleiben? Obdachlos in Novi Sad? Ein pfiffiger Hostelbesitzer wusste offensichtlich um dieses Informationsdefizit und legte seine Flyer (mit einer Beschreibung von hier bis zu seinem Hostel)  im Eingangsbereich der ehemaligen Jugendherberge aus. Schnell finden wir das „Bela Lada“ und sind über den Preis der Übernachtung erfreut. Nicht mal halb soviel wie in Vukovar. Dazu noch kostenloses Internet. Das wichtigste aber ist eine Dusche.

Am späten Nachmittag schlendern wie durch die Altstadt von Novi Sad. Eine tolle Kirche, ein Theater, Museen und Leben auf den Straßen. Es ist schön, dass man hier nichts mehr von Vergangenheit sieht. Wir kaufen neue Schnürsenkel für Konrad auf einer Flaniermeile, da er seine aus Versehen zerrissen hat. Nicht nur seine Bein- auch seine Armmuckis wachsen.

In einem Supermarkt versucht Konrad, gehacktes Schweinefleisch beim Metzger zu erwerben. An Stelle es mit Worten zu versuchen, oinkt und grunzt er wie ein Schwein los. Der Metzger versteht ihn zu meiner Überraschung, auch die pantomimische Darstellung eines Fleischwolfes durch den das Fleisch soll, erkennt er prompt. Heute Abend wird wieder richtig gekocht: Hackfleisch mit Bohnen, Reis und Mais, dazu eine delikate Soße und weiße Schokolade zum Dessert. An der Kasse akzeptiert  man unseren 1000 Dinar-Schein (15 €) nicht, da ihm eine Ecke fehlt. Aber wir haben ja noch einige andere zur Hand. Der Hostelbetreiber hat kein Problem mit der Note.

Auf dem einzigen nicht-serbischen Sender,CNN, läuft den ganzen Abend die Ernennung von Sarah Palin zu John McCains Vizekandidatin für die us-amerikanische Präsidentschaftswahl. So wie es aussieht, scheint niemand auf der Welt mit dieser unsympathischen Frau aus Alaska gerechnet zuhaben.

In unserem Zimmer stehen zwei Betten und ein Schrank und damit ist es vollständig ausgefüllt, den Fußboden sieht man fast nicht. So kann man vom Bett aus im Liegen unser leckeres Mahl kochen. Beengt fühlt man sich dennoch nicht, da der Raum mindestens 4 Meter hoch ist. Unser Hostel war vermutlich nicht für diesen Zweck gebaut worden, sondern bekam erst später seinen jetzigen Sinn. Der Besitzer hat dann den einen großen Raum in viele kleine unterteilt und ermöglicht uns so eine preiswerte Schlafmöglichkeit.

Ein Missgeschick passiert mir noch vor dem Schlafen: Beim Wäsche waschen – was dringend nötig geworden war - in der Dusche des kleinen Bades, fallen mir aus Versehen sowohl Konrads,  als auch meine Zahnbürste vom Toilettenspülkasten ins Klo. 

Morgen geht’s nach Belgrad!

 

#16

Sonnabend, 30.08.2008

Novi Sad - Belgrad - Smederevo

151,6 km

7:46 h

av. V = 19,5 km/h

↗ 1057 hm

↘1004 hm

av. P = 100 W

20°C - 33°C, sonnig – bedeckt - sonnig

5300 RSD (Dinar)

 

Am heutigen Morgen nutze ich den einzigen PC mit Internetanschluss, welcher in unserer Unterkunft zur Verfügung steht, ausgiebig und versuche die Zugtickets von Düsseldorf nach Dresden zu buchen. Denn den Flug von Istanbul nach Deutschland - und zwar zum preiswertesten Ziel: Düsseldorf - hatten wir ja schon vor Reiseantritt gekauft, nun sollte die Rückreise komplettiert werden, damit wir uns um Nichts weiter Gedanken machen müssen und nur noch an Istanbul denken können. Die Tastatur war recht gewöhnungsbedürftig, wie man es oft im Ausland hat.  Jeder Buchstabe ist an einer anderen unlogischen Stelle angebracht. Mails verschicken geht gleich gar nicht, da ich beim besten Willen kein „@“ finden kann.

Doch aus Serbien erwartet den Deutsche-Bahn-Nutzer ein weiteres  Problem: Man kann leider keine Zugtickets buchen. Also rief ich einen Freund, den André Rinke, zu Hause an, damit er das regelt, nichts wissend, dass die Verbrecher von Vodafone für ein Gespräch aus Serbien 4,80€ pro Minute verlangen. 4,80€ !!! Zum Vergleich: Die teuerste Sexhotline hierzulande kostet  nur 1,86€. Zum Glück erfahre ich das erst als ich wieder in Deutschland bin. In allen anderen Ländern der Reise waren die Telefongespräche preislich in einem akzeptablen Rahmen geblieben.

Ab hier überlasse ich wieder einmal Konrads Tagebuch das Wort:

„30.8.2008   16.Tag    Novi Sad – Smederevo

Über Nacht trocknen unsere Sachen halbwegs, den Rest müssen unsere Körper übernehmen. Draußen ist es schon warm als wir losradeln.

Auf dem Weg heute soll der Verkehr ja mörderisch sein. Der Bikeline-Reiseführer empfiehlt sogar,  ab Belgrad bis Smederevo mit dem Zug zu fahren. Aber so etwas machen wir nicht. Jeder Meter soll aus eigener Kraft gefahren sein.

Novi Sad verlassen wir auf demselben Weg, auf dem wir auch reingekommen sind. Schon vor der Flussüberquerung verliert Stefan seine Getränkeflasche (Cola). Ich fuhr drüber und schwarzes Zuckerwasser spritzt in alle Richtungen. Vor allem auf mich. Meine beiden Beine sind jetzt schön klebrig. Das nächste Missgeschick lässt nicht lange auf sich warten: Nach einem Schlagloch knallt es an Stefans Hinterrad, ein Katzenauge hat sich verabschiedet und die Backpacks hängen schief. Die linke Tasche hat sich gelöst und baumelt nun lose, nur noch durch die Gummibänder gehalten, am Gepäckträger. Nur mit Mühe kann ich Stefan überreden, nicht auch noch diese Tasche fest und auf die Schnelle unlösbar ans Fahrrad zu tapen. Wie wir es schon mit einer meiner Taschen in Budapest taten, was aber abends, wenn wir unser Lager aufschlagen sehr unpraktisch ist.

Die Fahrt geht, nachdem alles gerichtet wurde, weiter. Und dann kommt der „Heilige Berg“. Er ist nicht besonders steil, dafür lang und die Straße ist absoluter Dreck. Ein Schlagloch jagt das nächste, eine Bodenwelle folgt auf die andere. Oben angekommen geht es in leichter Abfahrt in ein Dorf. Hier ersetzen wir die verlorene Cola. An der örtlichen Bushaltestelle, welche wohl, so wie sie aussieht, sämtliche Kriege auf serbischen Boden überlebt hat und an drei nebeneinander aufgestellte Sonnenschirme aus Schiffsstahl erinnert, machen wir Pause. Hier begegnen wir unserer ersten Hundebande. Der Anführer ist der Kleinste, aber auch der Lauteste. Hinter ihm her dackeln die anderen. Nachdem sie uns abgecheckt haben und nichts Besonderes bemerken, teilen sie sich auf. Doch sobald einer bellt, kommen alle angerannt und schauen was passiert ist oder gefunden wurde.

Da Stefan in Novi Sad unsere Zahnbürsten zielsicher im Klo versenkt hat, kaufen wir hier gleich neue.

Obwohl der Bikeline-Reiseführer Offroad-Strecken ankündigte, blieben wir die ganze Zeit auf Asphalt und auch ziemlich ungestört. Einmal ruft André an, an den wir unser Zugticketproblem outgesourct hatten, doch auch das ist schnell geklärt. (Für ebenfalls 4,80€/min)

Es zieht etwas zu, leichter Gegenwind kommt auf, während wir durch langweilige Felder und urig-arme Dörfer fahren. Die Häuser sind recht farbenfroh gehalten. So zum Beispiel mit gelber, himmelblauer oder minzgrüner Farbe bemalt und haben an Dach, Ecken und Fenstern oft eine sich abhebende Kontrastfarbe. An der Stirnseite der Dächer sind die Wände mit wellen- und bogenförmigen Verzierungen versehen. Der Blick in Gärten und Hinterhöfe ist allzu oft durch eine Mauer verspertr, die aber wiederrum ebenso aufwendig gestaltet ist, wie die Fassade des angrenzenden Hauses. Vor dem Grundstück, im Schatten eines Baumes, darf eine Bank nicht fehlen, auf welche man sich hinsetzt und einfach nur die Dorfstraße und deren Befahrer beobachtet. Ein Dorf gleicht so dem nächsten.

Kurz vor Belgrad müssen wir eine Entscheidung treffen: Entweder stark befahrene Hauptstraße oder einsame und unbefestigter Weg durch Gärten und Felder. Wir entscheiden uns für letzteres und fahren von der Straße ab. Noch bevor wir den anvisierten Feldweg erreichen, fängt mein Fahrrad komisch an zu klackern. Nach kurzer Untersuchung steht fest, eine meiner Speichen im Hinterrad ist gebrochen. Wir tapen sie notdürftig fest. Bis Smederevo hielt sie und danach bogen wir sie etwas und klemmten sie hinter die anderen Speichen.

Kurzzeitig folgen uns kleine Kids auf dem Feldweg, doch als dieser so schlecht wird, dass wir uns schon überlegen umzukehren, geben sie auf. Dafür machen wir eine DER Entdeckungen unserer Tour bisher. Stefan nennt es später: „Same people, same place“: Mitten im Nirgendwo, abseits aller Pfade, dort wo nur Menschen sein können, die dem bikeline-Reiseführer folgen, treffen wir zwei Backpacker. Ein Mann und eine Frau, vielleicht Ende Zwanzig. Wir grüßen. Stefan erkennt die „Globetrotter™“-Taschen und hält an. Es müssen Deutsche sein, die gerade Mittagspause machen. Mehrere Minuten tauschen wir uns aus. Ein Freund heiratet in Australien und da wollen sie nun hin. Sie wollen der Donau bis zum schwarzen Meer folgen und dann der Küste bis Odessa folgen. Hier wollen sie den Zug nach Moskau erreichen, um da wiederum die berühmte Transsibirische Eisenbahn bis in die Mongolei zunehmen. China steht anschließend auf dem Plan und dann wieder Radfahren durch Vietnam und die Anrainer. Dafür haben sie ihre Jobs gekündigt und sich auf Tour gemacht. Bei genauerer Nachfrage erfahren wir, dass sie für die gleiche Strecke schon doppelt solange unterwegs sind wie wir. Na ob sie das bis 19.9. nach Odessa schaffen? Denn dann müssen sie da sein, auch sie haben schon Zugtickets gebucht. Wir wünschen ihnen von Herzen viel Erfolg. Sie erwidern den Gruß.

Links von uns ist längere Zeit ein militärisches Sperrgebiet. Auch hier wieder wilde, aber friedliche Hunde. Nach mehreren Kilometern hat uns der Asphalt wieder. Die Straße nach Belgrad ist stark befahren. Doch ich hätte es mir noch ein kleines Stück schlimmer vorgestellt. Problematischer sind die schlechten Straßen. Ab und zu hat die Straße am Rand, also gerade dort wo sich normalerweise die Radfahrer rumdrücken, ein Loch. Mit harter Kante und ordentlich tief. Manchmal kann ich nur sehr knapp ausweichen. Das Fahrrad leidet.

Sobald wir an der Donau sind, ändert sich das Bild. Die Uferpromenade ähnelt der in Prag. Popcornhändler, Gaukler und Karussell sind anwesend. Wenig später erklärt sich auch, warum: Als wir die Sava, den Donauzufluss in Belgrad, über die erstbeste Brücke überqueren wollen, hält uns ein kleiner Junge auf. In bestem Schulenglisch erklärt er, dass die Brücke auf dieser Seite wegen eines Feuerwerkes, das gerade aufgebaut wird, gesperrt sei. Eine Überquerung auf der anderen Straßenseite sei jedoch möglich. Es scheint gerade ein Stadtfest stattzufinden. Hinter der Brücke kommt uns eine Umzugsgesellschaft entgegen. Prinzengarde und kostümierte, herausgeputzte Mädels, sowie Standartenträger. So wie in Deutschland zum 11.11.

An der Belgrader Festung Kalamegdan fahren wir links vorbei. Für so etwas haben wir in einer solchen Stadt kein Auge. Der Stresspegel steigt. Hier, bei einem leichten Anstieg, herrscht das blanke Verkehrschaos. Zwar gibt es für jede Richtung drei Spuren, doch auf der rechten wird grundsätzlich erstmal geparkt. Damit das einigermaßen gerechtfertigt erscheint, wird einfach die Warnblinkanlage angeschaltet. Das funktioniert und wird scheinbar auch akzeptiert, wenn man so in zweiter Reihe parkt. Der Verkehr bewegt sich über zig Kilometer nur mit Stop-and-Go. Wenn man nur selbstbewusst, auch mit dem Fahrrad, in jede sich öffnende Lücke fährt und keine Angst vorm Ausbremsen von Bussen hat, geht der Verkehr aber. Denn keiner hat hier böse Absichten und will einen wie uns um rauchen.

Rechtzeitig kommen wir aus dieser grässlichen, aber nicht fürchterlichen (wie Brüssel) Stadt heraus. Wir kaufen in einem Supermarkt etwas ein und machen Frühabendbrot, oder Spätmittagessen. Es ist so gegen Vier. Auf drei Europaletten hocken wir wie Penner hinter den Müllcontainern des Supermarktes. Unser Blick richtet sich auf zwei riesige Häuser, eher Türme, welche stufenförmig in den Himmel ragen. Sie erinnern an Townships oder den Turm, welcher mal in Babel stand. Wer wohl in so einem Monstrum wohnt? Sido vielleicht?

Bei einer langen Abfahrt lassen wir Belgrad endgültig hinter uns und müssen feststellen, dass es weniger schlimm als erwartet war. Städte wie Budapest, aber auch Brüssel und Paris, haben uns schon das Schrecken gelehrt.

Den nächsten Berg unterschätze ich völlig und attackiere zwei Backpacker, die so bescheuert sind und mit Rucksack, anstelle von Gepäckträgertaschen, fahren. Das überholen war noch leicht, das wegkommen gestaltet sich als schwierig. Denn eines gilt fürs großspurige Überholen: Man muss dann auch die Lücke reißen können. Ich schnaufe wie eine alte Lok und schaffe es gerade so,  die beiden abzuhängen. Und ich beobachte dieses illustre Schauspiel von Selbstüberschätzung gemütlich aus Konrads Windschatten. Doch der Anstieg wird immer länger. Hinter jeder Kurve geht er weiter. Oben angekommen bin ich stehend k.o. Zum Glück geht es jetzt erstmal bergab, aber gleich wieder steil bergauf. Hier und heute ist eine der bergigsten Etappen unserer Tour. In dem Wissen, dass ich in der Tschechei in Tschechien schwerere Klopse überwunde hatte, schaffe ich aber auch diese. Stefan kommt recht gut und immer vor mir über die Berge.

Langsam sinkt die Sonne bedrohlich tief und wir haben noch immer nicht Smederevo oder einen Zeltplatz erreicht. Zeltplätze scheint es in Serbien nur ganz versteckt zu geben und wildcampen geht de facto nicht, weil wir dann nicht gemeldet wären, aber bei der Ausreise aus Serbien für jede Nacht eine Anmeldung vorweisen müssen.

In Smederevo, das wir erreichen als es schon dunkel ist, finden wir auch keinen Zeltplatz. Auch eine Pension o.ä. finden wir nicht. Das lange beworbene “Hotel Smederevo“ liegt brach und dem Verfall preisgegeben. Wir fahren kreuz und quer durch diese Industriestadt. Nach mehreren erfolglosen Fragen und einem netten Schlussanstieg und als wildcampen schon, mit einem schlechten Bauchgefühl, beschlossene Sache ist, finden wir schließlich das “Hotel Čar“. Čar ist nicht gleich Car und hat auch nichts mit einem Motel für Autofahrer zutun, sondern wir Zar gesprochen und bedeutet es auch. Das “Hotel Zar“ wird uns beherbergen. Es ist billiger als Vukovar, dafür sehr, sehr viel besser. Ein riesiges, klimatisiertes Zimmer mit Teppich und Samtvorhängen, ein Bad aus Marmor und deutsches Fernsehen. Wir sind begeistert.

Abends schauen wir noch ewig fern (u.a. die Bundesligazusammenfassung) und kochen dabei auch hier wieder mit unserem Gaskocher im Zimmer.

Heute war eine unheimlich lange und stressige Etappe, da sie von Autoverkehr geprägt war, den man nur sehr selten umgehen konnte. Die Serben fahren ganz andere Fahrzeuge, die TOP2 sind der Yugos Tempo 1.1 und der Zastrava Scala 55. Und ob die Serben wirklich Autofahren können, ist eine weitere Frage: Auf der Straße von Belgrad nach Smederevo fanden sich auf jedem Kilometer mindestens ein, manchmal auch drei, Grabsteine am Straßenrand. Man setzt hier keine Holzkreuze, sondern Grabmahle wie auf dem Friedhof, in welche oft auch ein Foto des Verunglückten eingraviert ist. Am Anfang noch bedrückend, gewöhnt man sich an diese Bilder.

Super in Serbien ist, dass man zwar kyrillische Schrift hat, aber überall wo es wichtig ist, auch lateinische Schriftzeichen verwendet. Für uns, die wir Latein anstelle von Russisch in der 7. Klasse gewählt haben, eine große Hilfe.

Dass wir heute zum dritten Mal in Folge das Zelt im Sack lasse,n schlägt ziemlich auf die Reisekasse und das Gewissen. Aber Minen in Serbien und diese blöde Melderegelung in Serbien machen es anders nicht möglich. Zeltplätze gibt es nicht.   

Morgen reicht auch die halbe Strecke und halb soviele Anstiege.

 

#17

Sonntag, 31.08.2008

Smederevo - Ram - Bela Crkva

91,1 km

4:46 h

av. V = 19,1 km/h

↗ 304 hm

↘346 hm

av. P = 80 W

20°C - 33°C, sonnig

1600 RSD (Dinar)

 

Oh - was war das für ein herrlicher Morgen: Frühstück wie für Zaren: Spiegel- und Rührei, Würstchen gekocht oder gebraten, ein Buffet, das einem alles bot, worauf man Appetit hatte. Wir schlagen uns den Wanst voll. Zurück auf dem Zimmer die nächste tolle Überraschung: Auf Pro Sieben laufen gerade zwei Folgen “Scrubs“. Also nochmal rein ins Bett und eine Stunde Fernsehen geschaut. So beginnt der Tag doch einmal angenehm.

Umso schwerer fällt dann der Aufbruch. Es war die erholsamste Nacht der Tour. Im Hotelfoyer haben wir “Lowpacker“ getroffen, so nennen wir Radreisende, die kaum Gepäck dabei haben und deswegen unserer nicht würdig zu seien scheinen, weil sie von einem ganz anderen Schlag sind. Diese zum Beispiel , fahren auch die Donau ab, doch zerstückeln sie die Tour in viele kleine Minietappen, die sie dann jedes Jahr für Jahr abfahren. Im Übrigen begann ihre Tour in Belgrad erst einmal mit einer Zugfahrt hierher nach Smederevo.

Der Weg aus der Stadt hinaus, ist ebenso schwierig, wie gestern Abend das Finden einer Übernachtungsmöglichkeit. Instinktiv fahren wir zunächst wieder an die Donau,  um uns zu orientieren. Direkt am Fluss ist eine alte Festungsanlage mit vielen Turmresten und unheimlich dicken Mauern zu finden, die aus einer Zeit stammt, in der Smederevo Hauptstadt ganz Serbiens war. Aber das ist nun schon über 500 Jahre her, heute hat man sich der Industrie verschrieben und besitzt das größte serbische Stahlwerk. Das ist doch auch was. Wenn auch etwas Hässliches.

An der Festungsanlage stellen wir fest, dass wir wieder genau in die andere Richtung müssen, denn die Donau verlassen wir nun für zirka 70 Kilometer. Endlich fahren wir wieder auf kleinen Straßen durch die Landschaft. Es herrscht wenig Verkehr.

Die friedliche Stimmung wird jäh unterbrochen, als wir an einem Schrottplatz vorbeifahren. Nicht der Schrottplatz an sich stellt ein Problem dar, vielleicht auch nicht der Hund der ihn bewacht, aber die Tatsache, dass es diesem Schlingel gelingt, sich ganz klein zumachen und seinen Körper unter dem Eingangstor durchzuquetschen. Wie von der Tarantel gestochen ist er auf 180 und greift uns mit gefletschten Zähnen an. Wir wissen nicht, was ihn geritten hat, dermaßen auszurasten, aber die Gedanken heben wir für später auf und sprinten erst einmal davon. Auf Asphalt haben wir einfach die höhere Endgeschwindigkeit. 40 k m/h sind auch mit dem vollbepackten Tourenrad in solchen Notsituationen möglich.

In Osipaonica, vielleicht 20 Kilometer südlich von Smederevo, biegen wir auf eine noch kleinere Dorfstraße ab und fahren so wieder gen Osten. Es ist eine gute Idee des bikeline-Reiseführers - um ihn auch einmal zu loben - hier einen Umweg zu wählen und so ein angenehmeres Fahren als gestern zu ermöglichen.

Es ist Sonntag und in Osipaonica ist Flohmarkt. Ein recht großer Flohmarkt, aber wir fahren ohne etwas zu kaufen weiter. Wir haben ja alles was wir brauchen. Für die Menschen der Gegend hier, ist der Flohmarkt wohl auch mehr als nur Ankauf/Verkauf. Es ist ein Gewusel, wie auf einem Jahrmarkt. Am Ortsausgang sehen wir wieder ein so typisches Bild für Serbien: An Müll am Straßenrad, welcher auch noch vor sich hin brennt haben wir uns ja schon gewohnt. Hier aber steht sogar der Verursacher mit einem Stock noch daneben und hält das Feuer am Leben. Mit einer Selbstverständlichkeit erzeugt er einen dicken Rauch der die Sichtweite soweit beschränkt, dass man nicht mal mehr sieht wo die Straße endet und Löcher beginnen. Warum die Serben – und man kann es ohne schlechtes Gewissen verallgemeinern – ihren Müll in die vielleicht sogar schöne Natur tragen um ihn dort zu verbrennen, bleibt uns ein Rätsel. Nur verbrennen Folietüten, Dosen und anderer Hausmüll ja nicht sauber, sondern hinterlassen einen unansehnlichen verkohlten Rest.  Andere Länder, andere Sitten.

Wir fahren weiter und kommen an eine geschlossene Bahnschranke, die sogar einen Schrankenwärter hat. Als wir gerade warten wollen, winkt uns der Bahnwärter Thiel – nennen wir ihn einmal so – über die geschlossene Schranke. Wir vertrauen ihm, da er vom Fach ist (?) und überqueren die Gleise. Wenige Augenblicke später kommt der Zug angerauscht. Wieder: Andere Länder, andere Sitten. Dass diese Aktion richtig nach hinten hätte losgehen können, wird erst wenig später klar: Denn Autofahrer (und Radfahrer) teilen sich hier mit der Eisenbahn eine Brücke über den Fluss Velika Morava. Die Gleise verlaufen quasi auf der einspurigen Straße. Die Schranke sorgt dafür, dass kein Unglück passiert. Man kann dann auf der doch etwas längeren Brücke nicht einfach ausweichen.  Gott sei Dank: Wir hatten auf den 50 Metern zwischen Schranke und Brücke eine kleine Pinkelpause eingelegt, in welcher die Eisenbahn, mit ihren fröhlich winkenden Fahrgästen, uns passiert.

Als nächstes kommen wir in die Feuerstadt. Ins serbische übersetzt:  Požarevac, Geburtsort von Slobodan Milošević, Verantwortlicher für viele Massaker, auch das von Vukovar und Srebrenica. Die Stadt ist recht langweilig. Ich vernavigiere mich zu Konrads Leidwesen zwei, drei Mal, wir fahren unnütz einen langen Berg hinauf. Aber ihre Geschichte ist einprägsam und geht so: Ein türkischer Kriegsherr verlor eine Schlacht gegen seine serbischen Feinde, dabei wurde er verletzt und tauchte in einem Dorf unter. Als die Serben den Dorfbewohnern befahlen, den türkischen Sultan auszuliefern, weigerten sich diese aber, weil sie Angst vor der Rache der Türken hatten. Daraufhin töteten die Serben alle 70 Männer des Dorfes, welches von da an Udovice (“Witwendorf“) hieß. Der türkische Sultan Alibeg floh abermals und versteckte sich nun in einem riesigen Schilfgebiet in dieser Gegend. Da fackelten die Serben nicht lange und steckten das Schilf in Brand. Mehrere Hektar Land verbrannten und der Sultan fand einen grausamen Tod. So bekam die Stadt den Namen “Feuerstadt“. Eine schreckliche Geschichte, aber schon einige Jahrhunderte her. Und seit her verbrennen die Serben alles was ihnen nicht lieb ist, wie den Müll zum Beispiel. Ein kleiner Scherz.

Von nun an fuhren wie durch einen großen Braunkohletagebau. Immer wieder tauchten kolossale Rohre oder Förderbänder am Wegesrand auf. Es war die Gegend um Kostolac, welche ärmer als der bisher gesehene Teil von Serbien zu sein schien und verwahrlost und unwirklich wirkte. Kostolac selber, ein römischer Kaiser liegt hier begraben, war vom Tagebaudreck gezeichnet und sah wenig einladend aus. Die Dörfer davor und danach waren verfallen, fast Geisterdörfer, auch die Straße verwilderte und wuchs schon langsam mit Unkraut zu. Doch Menschen lebten noch immer in den Häusern, die keine Glasscheiben mehr in den Fenstern hatten und überhaupt zerfallen waren und eher an Rostlauben erinnerten. Die Kinder spielten im Müll. Ja auch hier: Müll soweit das Auge reichte. Es könnte sein, dass man diese Dörfer schon abgeschrieben hat, da auch hier der Tagebau eines Tages hinkommt und dann sowieso alles verschwinden wird. Einmal sehen wir auch ein neugebautes Haus, mitten auf einem Feld, es war verlassen. Dass Menschen hierher ziehen,  kann man sich aber auch nicht vorstellen.

In Drmno,  dem nächsten Ort, sieht die Welt wieder ganz anders aus. Hier sind die Straßen in Ordnung, die Häuser in Schuss mit gemähtem Rasen im Vorgarten. Es gibt einen Laden und ein Denkmal, das an einen der viele Kriege erinnert. Hier machen wir eine kurze Mittagspause. Wie in Kroatien, gibt es auch in Serbien  in jedem Kuhkaff einen kleinen Kaufmannsladen und so essen wir im Schatten des Denkmals unser Eis. Anschließend hätte ich fast eine Katastrophe verursacht: Als wir wieder aufbrechen, lasse ich die Tasche mit allen wichtigen Dingen liegen, ich hatte sie immer am Mann, damit eben nichts wegkommt. Das Portmonee mit Geld, ec-, und Kreditkarte, unsere Reisepässe, die Anmeldungen für Serbien und das Ticket für den Rückflug aus Istanbul, alles habe ich auf der Bank am Denkmal liegen lassen. Gott sei Dank wollte Konrad ein paar Meter weiter unbedingt noch eine Limo in einem nächsten Mini-Laden kaufen, sonst hätten wir es erst viel später gemerkt und  wohlmöglich wäre die Tasche dann schon längst irgendwo anders hin gewandert. Glück gehabt!

In selbiger Ortschaft – und ich finde auch sowas muss man erwähnen – spielte sich eine weitere Besonderheit ab. An Hundebanden hatten wir uns schon gewöhnt, die meisten sind friedlich und machen ihr eigenes Ding ohne groß aufzufallen. Die in Drmno hingegen fiel durch sonderbares Verhalten auf: Sie bestand aus vier Hunden, doch zwei von denen, schienen am Po zusammengewachsen zu sein. Sie sahen aus wie siamesische Zwillinge, aber eben von unterschiedlichen Rassen. Der eine lief vorwärts, der andere rückwärts, Po an Po. So gingen sie durch das Dorf. Ich dachte mir, so eine wissenschaftliche Sensation muss ich unbedingt auf einem Foto festhalten und ging dazu näher an sie heran, zoomen kann der Billig-Fotoapparat ja nicht. Dabei geriet der siamesische Zwillingshund in Panik. Beide Teile wollten nun in entgegengesetzte Richtungen abhauen. Just in dem Moment wo ich knipsen wollte, zerriss diese Po-an-Po-Beziehung in zwei Teile. Schade. Sofort nutzte ein dritter Hund die sich ihm bietende Chance und besprang die gerade freigewordene Hündin voller Lust. Ich kenne mich mit Hunden überhaupt nicht aus, aber das mit den zusammengeklebten Hunden ist so nicht normal.

Der Weg führte weiter direkt am Tagebau vorbei. Schon einige Straßen mussten diesem Vorhaben weichen und so wird der Umweg nach Kličevac immer länger. Am Straßenrand steht wieder einmal ein Grabstein. Seine Gravur zeigt einen jungen Mann und seinen Wagen. Wie es hier im Niemandsland auf einer schnurgeraden, neuen Straße, ohne Bäume oder Straßengraben, einfach nur Asphalt auf Wiese, zu seinem tragischen Unfall kommen konnte, bleibt ein Rätsel. Es gab nichts, wo er hätte dagegen fahren können, nicht einmal Verkehr.

Im immer stärker werdenden Gegenwind fahren wir im Zwei-Mann-Belgischen-Kreisel nach Kličevac ein. Im Ort findet heute eine Hochzeit statt und alles ist festlich geschmückt. Das ganze Dorf ist auf den Beinen und feiert das glückliche Paar, welches in einer schönen Orthodoxen Kirche mit vielen kleinen Dächern heiratet.

An einer Kreuzung  fragen wir vor einer Kneipe eine größere Gruppe von Bewohnern nach dem richtigen Weg zum nicht einmal zehn Kilometer entfernten Fährörtchen Ram. Ein netter alter Mann weist den Weg nach links, der gesamte Rest des Dorfes weist lautstark nach rechts. Der Alte versichert unbekümmert und unbeeindruckt von der Masse weiterhin mit seinem Finger nach links. Das Dorf flippt fast aus, alle schütteln den Kopf, rufen und zeigen deutlich nach rechts, nur der Alte nicht. Wir geben der Mehrheit recht und fahren unter Jubel nach Rechts, der Hauptstraße folgend und kommen nach Ram.

Ram besteht eigentlich nur aus der Fähre über die Donau, einer Gaststätte und einer alten osmanischen Festung. Aber genau diese Fähre ist die einzige Möglichkeit weit und breit, über die Donau zu gelangen und deswegen ist Ram recht voll. Wir müssen uns eine Weile gedulden, da die Fähre erst nach knapp einer Stunde fährt.

Bei dem einzigen Eis im Angebot der Gaststätte genießen wir die Pause am Wasser. Die Donau ist hier sehr breit, am anderen Ufer erkennt man keine Häuser mehr, da sie von den Karpaten, zwischen dem Serbischen Erzgebirge und dem Banater Gebirge, in ein enges Tal gezwungen wird. Der Donaudurchbruch beginnt. In Ram muss man sich grundsätzlich entscheiden, auf welcher Seite der Donau man den Donaudurchbruch befährt: Auf serbischer oder auf rumänischer Seite. Auf den nächsten 150 Kilometer gibt es weder Brücke noch Fähre. Wir wählen die rumänische Seite, da, so sagt man, hier viel weniger Verkehr herrscht und man allgemein idyllischer und abwechslungsreicher durch den imposanten Donaudurchbruch gelangt.

Nach der langen und für uns immer wieder angenehmen Fahrt auf der Fähre erreichen wir aber noch nicht Rumänien, weiterhin befinden wir uns in Serbien. Um nach Rumänien zu kommen, muss man einige Kilometer ins Hinterland fahren. Doch nicht mehr heute. Unser Tagesziel ist ein Zeltplatz an einem See. Sieben Seen gibt es hier um Bela Crkva und sie sollen alle kristallklar sein. Unserer am Zeltplatz kurz vor dem Ort war es leider nicht. Dennoch viel besser als die hiesigen Duschen und so können wir vor dem Abendessen noch Baden gehen. 

Wir kochen endlich mal wieder unter freiem Himmel unser Abendessen:  Nudeln.  Als wir fertig sind mit Essen, fängt unser Zeltnachbar einen großen Fisch. Serbische Freudenschreie sind zuhören, dann wird Frauchen losgeschickt zum ausnehmen. Später treffen dann noch Freunde, stilecht im Zastrava SKala 55, zum Fisch essen und Krimi gucken ein. Auch wenn er nicht viele PS hat, Scheinwerfer wie Flakscheinwerfer hat der Zastrava. So ist es, trotz längst verschwundener Sonne,  taghell im Zelt.

Beim Zähneputzen vor dem Duschraum, komme ich zum ersten Mal mit einem Serben, der uns kein Zimmer vermieten will, ins Gespräch:  Gegen Deutsche hat in Serbien niemand etwas. Die Bedenken, dass wir uns für unser Land und dessen Außenpolitik verantwortlich zeigen müssen, waren unbegründet. Man freut sich vielmehr,  uns hier als Gäste begrüßen zu können. Jeder war oder kennt zumindest jemanden, der schon einmal in Deutschland  gelebt und gearbeitet hat.

Der heutige Tag war zwar nicht lang, dennoch sehr abwechslungsreich und bietet daher  einen etwas versöhnlichen Abschluss von Serbien, was ansonsten landschaftlich eher eine Enttäuschung war.

 Wie in Ungarn auch, haben in Serbien viele Geschäfte sonntags geöffnet.

 

#18

Montag, 01.09.2008

Bela Crkva - Moldova Veche – Donaudurchbruch (Dubova)

131,2 km

7:27 h

av. V = 19,1 km/h

↗ 788 hm

↘787 hm

av. P = 100 W

19°C - 32°C, sonnig

362 RSD (Dinar) &

20 RON (Leu/Lew)

 

Montagmorgen, wir sind die allerersten die hier auf dem Zeltplatz aufstehen und aufbrechen. Der Zeltplatzoberaufseher drückt uns beim Bezahlen noch ein Prospekt von seiner Anlage in die Hand. Dabei ist es doch wohl offensichtlich, dass wir hier nie wieder  entlang kommen werden.

Der Zeltplatz lag wenige Kilometer vor Bela Crkva , so dass wir schnell in dem kleinen Barockstädtchen sind und Frühstück kaufen können. Ein Mann kommt die Einkaufsstraße des Ortes entlang und bleibt an unseren Fahrrädern stehen.  Er mustert sie genau und schaut sich verstohlen um. Wir sitzen etwas abseits und können ihn genau beobachten und würden unsere Fahrräder nicht eine Sekunde aus den Augen lassen. Das ganze Frühstück über schaut er die Fahrräder mit ihren großen, äußerst praktischen Packtaschen, fasziniert an. Als wir aufsteigen, steht er immer noch direkt neben uns, sagt aber auch kein Wort, was hätte es auch gebracht? Wir können nicht ein Wort serbisch. Vor 1945 hätten wir uns in Bela Crkva problemlos auf Deutsch unterhalten können, denn bis Ende des Zweiten Weltkriegs waren die meisten Bewohner hier Deutsche. Bela Crkva hieß damals noch Weißkirchen.

Wir verlassen den Ort auf einer schnurgeraden und einsamen, leicht ansteigenden Landstraße,  die gen Rumänien führt. Rechts von uns bauen sich bereits die Karpaten auf, welche uns nun von der Donau trennen. Ansonsten ist hier nichts, nur endlose Wiese und Wind von vorn. Beide sind wir gespannt was uns in Rumänien erwartet.

Im Grenzörtchen Kaluderovo werden wir zum Abschied noch einmal von einem stattlichen Hund angegriffen, doch es geht hier kurz bergab, keine Chance für den Kläffer. Wobei, was würden die Grenzer 500 Meter weiter sagen, wenn wir im Sprint, aus Angst vor dem uns verfolgenden Hund, die Grenzanlage durchbrechen würden? Der Hund gibt kurz vorher auf.

Am serbischen Checkpoint ist schon allerhandlos. Einige wollen die Grenze passieren und man prüft auch unseren Pass und die Anmeldebestätigungen genau. 5 Minuten verschwindet der uniformierte Beamte mit Konrads Dokument in seinem Häuschen. Dann dürfen wir passieren, gegen Konrad liegt nichts vor. Ein paar Meter weiter passieren wir auch die rumänische Grenzstelle, mit unseren EU-Pässen sind wir hier aber ratz-fatz durch:  Ja - wir sind zurück in der Europäischen Union und sind erleichtert. Nicht,  dass die Serben uns auch nur einmal Angst gemacht hätten, aber die Frage was passiert wäre, wenn man da Pässe und Geld und alles verloren hätte, quasi gestrandet wäre, steht dennoch im Raum. Oder was ist nach einem Hundebiss zutun? Kennen die hier überhaupt die AOK Sachsen? In der EU, so bilden wir uns ein, sind wir eine starke Gemeinschaft, die zusammen hält und sich gegenseitig hilft.

In Rumänien sind wir sofort in einer anderen Welt. Gleich hinter der Grenze beginnt ein Karpatenausläufer, den wir überqueren müssen. Aus dem Stand geht es 500 Höhenmeter durch dichten, aber flachen, Wald hinauf. Manchmal, an einer Kurve, kann man durch die Nadelgehölze einen weiten Blick über die Landschaft mit Hügeln, endlosen Wäldern und kräftigen Wiesen nehmen. Stetig geht es bis zum höchsten Punkt bergauf. Die Straße ist in einem tadellosen Zustand und fast unbefahren, einmal kommt hier im Niemandsland ein Müllauto vorbei und sammelt an einer Raststätte die Abfälle ein. Ein Traum.

Was es hoch geht, muss es auch wieder hinuntergehen, in einer rasanten Abfahrt erreichen wir wieder die Donau bei Pojejena. Die Donau ist hier im Donaudurchbruch in einem engen Tal, welches für den Wind wie ein Tunnel wirkt. Wir haben sehr straken Gegenwind. Am Ende der Abfahrt müssen wir sogar bergab stark treten.

Wenig später in Moldova Veche, begehen wir die erste Handlung wie in jedem neuen Land: Geld beschaffen. Da wir keinen Geldautomat finden können, bitten wir einen jungen Mann, mit FC Bayern München – Base Cap, uns zusagen, wo es zu einem Bankomat geht. Er versteht kein Wort. Ich versteh kein Wort. Erst als er die Kreditkarte sieht, verstehen wir uns. Nun sollen wir ihm folgen und zwar genau in die Richtung aus welcher er gerade kam. Er führt uns lange durch die Stadt, scheut keinen Umweg für sich.  Am Straßenrand sehen wir erste Pferdefuhrwerke geparkt wie Autos und auch einen Rettungswagen mit der Aufschrift: “Rettungsdienst Köln – Jeder Schlaganfall – ein Notfall - 112“. Nach zehn Minuten haben wir gleich mehrere Bankhäuser zur Auswahl. Er verabschiedet sich schneller, als wir uns für seine Hilfe bedanken können und verschwindet.  An dem Geldautomat stellt sich uns erst einmal die Frage, wie viel rumänisches Geld wir gedenken abzuheben. Widersprüchliche Wechselkurse entdecken wir in der Reiseliteratur: Der Bikeline-Reiseführer meint 1 € entspricht über 35.000 rumänischen Lei. Ich hatte eigentlich irgendetwas mit 1:3 in Erinnerung und verlasse mich auch richtigerweise auf mein Bauchgefühl. Die 350 rumänischen Lei entsprechen etwa 100€, was für die Tage in Rumänien reichen sollten. Hätte ich blind 100 mal 35.000 Lei abgehoben – was natürlich niemals funktioniert hätte – wäre ich im Besitz von knapp einer Million Euro gewesen und das in einem Land in dem der durchschnittliche Arbeiter nur 200€ pro Monat verdient.

Wir verlassen Moldova Veche auf der einzigen Straße, die in Richtung Süden und so in den Donaudurchbruch führt. Die steilabfallenden Feldwände beidseitig des Flusses stauen die Donau hier noch einmal zu einem See an. In dessen Mitte eine Gebirgsfalte eine Insel bildet und an dessen Ufern eine Mondlandschaft die letzte flache Ebene für mehr als 100 Kilometer erschafft. Wieso plötzlich für ein paar Kilometer unseres Weges diese trostlose Ödnis zwischen der Straße und der Donau da war wissen wir nicht. An einem Meer hätte ich gedacht, dass hier Salz gewonnen wird.  

Unmittelbar an der Stelle wo sich die Donau in die Felsen schneidet, sehen wir auf der serbischen Flussseite die 700 jährige Festung Golubac, welche sich vom Ufer der Donau bis auf einen etwa 100 Meter hohen Felsen erstreckt, und von da oben über die Einfahrt in die Schlucht wacht. Ein recht imposantes Bild, welches man wohl nur von Rumänien aus so auf sich wirken lassen kann. Allzu lange können wir hier jedoch nicht rasten oder gar eine Siesta machen: Wir haben nämlich keine Getränke mehr und die Sonne knallt auf uns herab. Außerdem verliert man bei so starkem Gegenwind noch mehr Flüssigkeit als sonst schon über die Atemluft und hat so ständig Durst.

Doch das Probleme ist uns in diesem Moment  egal, auch alle noch so langweiligen Abschnitte unsere Tour, alle Irrfahrten im Verkehrschaos von Budapest und Belgrad sind vergessen: Wir fahren in die beeindruckteste Naturlandschaft unserer Tour ein: Das Donaudurchbruchstal des Eisernen Tors. Auf einer Straße mit perfektem Asphalt, die aber außer uns kein Mensch nutzt, radeln wir an steilen Felshängen vorbei. Nur die Straße findet zwischen den manchmal bewaldeten, andermal schroffen Bergen und der schmalen und schnellen Donau ihren Weg. Es ist ein – im wahrsten Sinne des Wortes – unbeschreibliches Ambiente: diese Ruhe und Einsamkeit, die Nähe zum Strom, die hohen Felsen und immer wieder Bauten aus längst vergangenen Tagen wie dem Kloster Manastirea oder den Cetatii Tricole, habsburgische Zolltürme, die nach wie vor aus den Fluten ragen. Es waren mal drei, heute stehen noch zwei.

Auf der anderen Flussseite, im Schatten und immer wieder in Tunneln verschwindend können wir die starkbefahrene Alternativroute durch den Donaudurchbruch sehen, aber nicht hören, denn auch wenn das andere Ufer nah scheint, ist es doch viel weiter weg und Straßenlärm dringt nicht bis zu uns. Auch wenn es langsam spät wird, machen wir noch einmal Pause und klettern von unserer Straße zum Fluss hinab, halten die Füße ins Wasser und sind einfach nur glücklich hier zu sein. Ein paar Angler sind unsere einzigen Zeugen.

Immer wieder kommen wir an kleinen Dörfern vorbei, doch Einkaufsmöglichkeiten finden wir keine und somit haben wir auch weiterhin nichts zum trinken. Vermutlich verdurstet man nicht am Ufer, des größten europäischen Flusses, der pro Sekunde 6.000 m³ Wasser an uns vorbeidrückt, aber abgefüllt in Flaschen, vielleicht auch mit Kohlensäure und eventuell etwas Geschmack ist uns doch lieber. In einem weiteren malerischen Örtchen beschließen wir daher uns zu informieren und den Erstbesten zu fragen. So ein Schritt will jetzt gut überlegt sein: Die Dorfstraße des auserwählten Ortes führt brutal steil den Berg hinauf aus dem Tal und allzu oft möchte man so einen Abstecher nicht umsonst machen. Aber an einem Pfirsichbaum mit reifen Früchten kann man auch den ersten Durst stillen und weitere Motivation sammeln.

Wir erregen schnell aufsehen und als ich meine leere Wasserflasche zeige, um so den Weg zum nächsten Laden zu erfahren, ist ein Bauer so hilfsbereit und füllt mir die Flasche mit Brunnenwasser ab. Trinken würden wir es nicht, doch das lasse ich mir nicht anmerken und da der Mann sichtlich froh war uns geholfen zuhaben, will ich ihn auch nicht weiter nach dem Weg zu einer alternativen Wasserversorgung „fragen“. Wir versuchen einen Dorfplatz oder die Kirche zu finden, irgendwo müssen die Leute ja auch Lebensmittel bekommen können. Es kann ja nicht jeder ein Selbstversorger sein, so wie unser Gemüsebauer mit dem Brunnen. Doch immer wieder enden steile Straßen in einem Bauernhof oder auch auf dem Friedhof. Doch plötzlich sehen wir an der Wand eines Hauses die Schrift: „Complex commercial“. Unsere alten Lateinkenntnisse sagen uns, dass man hier Geld für irgendetwas ausgeben kann. Im Idealfall: Getränke, in Flaschen, mit Kohlensäure und Geschmack. Und tatsächlich: Ein Lebensmittelladen, Komplex ist vielleicht ein wenig übertrieben, mit allem was uns glücklich macht. Viele Regale sind schon leer oder waren vielleicht auch nie voll. Mit unseren umgerechneten 100 Euro könnten wir den Laden komplett leer kaufen. Wir halten uns zurück und sind dankbar für eine Tüte Nudeln, Soße, Limo und Wasser. Jetzt haben wir alles was wir wollten und die Suche nach einem Nachtlager kann beginnen.

Wir wollen aber noch ein Stück an der Donau weiterfahren. Ein paar Kilometer weiter soll sich ein Zeltplatz befinden. Die Abfahrt durch das Dorf, hinab zu unserer Donau wurde nichts so angenehm wie anzunehmen gewesen wäre. Ein Hund lauerte uns plötzlich auf, hinauf hätte er es deutlich leichter gehabt, und greift uns an. Leise hatte er sich angepirscht, bemerkt haben wir in erst, als er neben uns stand und anfing zu bellen. Auf der Flucht erwischte er noch meine hintere Gepäckträgertasche mit einem beherzten Biss. Zu mehr kam er nicht, Hangabtriebskraft sei Dank. Eine Kurve weiter drehte der nächste Hund frei, überschlug sich aber selber bei dem Versuch uns zu beeindrucken. Man wo kamen die Viecher denn auf einmal alle her und warum sind wir auf einmal ihre Zielscheibe? Und was wäre wenn ich oder Konrad von einem gebissen worden wäre?

Adrenalingeladen kommen wir zurück auf die leere Hauptstraße. Es sollten bei weitem nicht die letzten Begegnungen mit den Kläffern für diesen Tag gewesen sein. Die Straße wurde nun immer schlechter. Der erste Abschnitt war perfekt asphaltiert gewesen, weil er nigelnagelneu (Ja man schreibt es so) war. Doch mehr als die ersten 20 Kilometer hat die Wanderbaustellen noch nicht geschafft. Von nun an rollen wir immer mehr auf Kies und Staub. Tief Luft holen heißt es da, wenn wir doch einmal einem Auto begegnen.

 Wenn man mit dem Rad durch ein fremdes Land fährt, dann macht man es auch um fremde Kulturen und Lebensweisen kennen zu lernen. Und jeden Tag sieht man etwas Neues, erfährt etwas Unerwartetes und lernt dazu:

Heute lernen wir, wie man in Rumänien seine Baustellenmaschinen vor Diebstahl oder Sabotage schützt: Man nehme sich eine Hundebande irgendwo her und siedele sie direkt an der zu bewachenden Maschine an. Dort füttert man sie so oft, bis die die treuen Söldner es als ihr Revier begriffen haben und dann, wenn es langsam Abend wird und zwei abgerackerte Radfahrer die Straße entlang fahren und nichts ahnend sich der Baustelle nähern, attackieren sie diese und vertreiben den Feind, auch wenn er garnichts Böses im Sinn hatte. Auf Kies den Biestern davon zufahren ist nun schon weit anspruchsvoller als die Abfahrtsflucht auf Asphalt. Wir meistern an diesem Abend noch drei weitere dieser Aufgaben. Aber selbstverständlich ist das nicht. Ich weiß nicht, wie vielleicht ältere Radreisende hier davon kommen, wenn sie es nicht schaffen auf 40km/h unter diesen Bedingungen zu beschleunigen und dann auch nicht auf dem Geröll stürzen. Ungeschoren jedenfalls nicht.

Es wird schon dunkel als wir der Straße hinauf ins Dorf Dubova folgen. Wir sind ganz nah an der engsten Stelle des Donaudurchbruches. Hier stehen die Felsen besonders steil im Wasser und die Straße muss über den Berg führen. Oben angekommen versuchen wir den Zeltplatz zu finden, den es hier geben soll. Ein paar ältere Leute genießen den Abend auf einer Bank und unterhalten sich, als Konrad sie nach dem Weg fragt. Konrad kann – soweit ich weiß - kein Rumänisch und hier kann auch eigentlich keiner Englisch oder Deutsch, dennoch erfährt er irgendwie eine Wegbeschreibung zum Zeltplatz. Eine steile Straße hinab an die Donau und dann immer rechts halten und da soll er sein.

Wir kommen wieder an einer Art aufgestauten See heraus. Wir sind kurz hinter der engsten Stelle und ein paar hundert Meter weiter wird es wieder recht gepresst zwischen den Felsen, aber hier hat sich eben diese Art See gebildet. Das Wasser ist ganz friedlich, sogar kleine Schiffe könnten anlegen. Wir folgen der Wegbeschreibung weiter am Ufer des “Sees“, beobachtet und verfolgt von einer weiteren Hundebande und gelangen an die Anlegestelle eines Hausbootes. Ein Schild weißt den kurzen Weg in die Lichtung des dichten angrenzenden Waldes. Wir sind direkt am Donaudurchbruch, so nah, dass wir nichts davon sehen können, weil der Weg hier endet.

Es ist nun schon dunkel, ein kleiner Hund steht bei uns auf der Lichtung. Er scheint friedlich gesinnt zu sein. Hier ist der deklarierte Zeltplatz. Also eine einfache freie Fläche im Gehölz, wo man sein Zelt aufbauen kann. Mehr nicht. Aus dem Wald hören wir Gefauche und Gebelle anderer Hunde. Oder von Wölfe. Oder Bären. Alles kann es hier geben. Es ist unheimlich. Es ist kein schöner Ort zum zelten. Wir gehen zurück ans Wasser zu dem Hausboot, der kleine Hund begleitet uns und schlagen unser Lager direkt unter einem Baum, auf einer kleinen Wiese auf. Damit wird hier gewiss keiner ein Problem haben.

Der Besitzer des Hausbootes bemerkt und rasch und wir kommen ins Gespräch. Er heißt Daniel, ist Grenzbeamter hier an der EU-Außengrenze zu Serbien und wohnt scheinbar allein auf dem Boot. Er schmeißt den Generator an und beleuchtet mit einem Scheinwerfer unser Lager. Das ist ziemlich hilfreich, da es in stockdunkler Nacht schwierig ist ein Zelt aufzubauen, den Kocher herzustellen und alles bereit für die Nacht zu machen. Daniel hat eine Katze namens Tom, die alsbald zu ihm kommt und nach Abendbrot verlangt. Es muss ein hartes Leben für eine Katze, hier mit all den Hunden, sein.

Unser kleiner Hund hat sich an den Eingang des Zeltes gelegt. Er sucht immer wieder den Kontakt und steht eindeutig auf unserer Seite im Vergleich zu all den anderen Mistviechern heute.

Am Abend passiert mir noch ein Malheur: Beim Abwaschen unserer Teller und des Topfes im Flusswasser, rutsche ich von den Steinen und falle in die Donau. Komplett. Konrad und Daniel lachen sich über mein Missgeschick lautstark kaputt. Kein Gedanke daran, mir aus dem kalten Wasser zu helfen. Mir bleibt nichts anderes übrig, dieser Sache auch das witzige abzugewinnen, die Wut zu verdrängen und mit zulachen. Dummerweise hatte ich aber mein Handy dabei in der Hosentasche. Abends mache ich immer an um zu erfahren, wer sich um mich sorgt, so auch heute und hab es dann in die Tasche gesteckt. Es gibt von nun an kein Lebenszeichen mehr von sich.

Fazit des Tages: Tolle Landschaft am Donaudurchbruch und böse Hunde, außer unserer, überall. Das Pfefferspray bleibt heute Nacht in Griffweite.

 

#19

Dienstag, 02.09.2008

Donaudurchbruch (Dubova) - Drobeta-Turnu Severin - Crivina

94,4 km

5:05 h

av. V = 18,5 km/h

↗ 412 hm

↘391 hm

av. P = 60 W

17°C - 38°C, sonnig

52 RON (Leu/Lew)

 

Der Morgen beginnt mit der Diskussion wie spät es ist. Ein Blick auf die Uhr reicht heute nicht aus, denn seit wir in Rumänien sind, sind wir auch eine Zeitzone weiter östlich. Also schon eine Stunde später als auf der Uhr. Konrad sieht es nicht ein, an dieser willkürlich gezogenen Zeitgrenze eine neue Zeitrechnung zu beginnen. Hätte es den Einfluss auf unsere weitere Reise, richten wir uns überhaupt nach der Uhr, ist es nicht völlig egal wie spät es ist? Der Tag beginnt mit dem Sonnenaufgang und endet, wenn die Nacht hereinbricht. Es ist völlig egal ob das um 19 Uhr oder 20 Uhr passiert. Die Zeit ist relativ, wenn es in Deutschland 19 Uhr ist und hier in Rumänien 20 Uhr, dann ist dennoch derselbe Augenblick. Die Worte in einem Telefonat – sofern man Handy ohne Wasserschaden hat - verharren nicht eine Stunde in der Leitung bis die Zeit bei Anrufer und Angerufenem gleich ist. Es ist scheißegal. Eigentlich. Aber sobald man in Kontakt mit Menschen tritt und sei es nur um Öffnungszeiten des nächsten Ladens zu erfragen, muss man sich auf einen einheitlichen Zeitbezug einigen. Und der ist in Deutschland und Serbien gleich, nicht aber in Rumänien. Da wir uns nicht einigen können, sprechen wir von nun an von 7 Uhr rumänischer Zeit und 8 Uhr serbisch-deutscher Zeit. Nach diesem Beschluss stehen wir auf.

Die ganze Nacht über hat uns unser kleiner Hund bewacht. Immer wieder hat er andere Hunde vertrieben oder sie gar bekämpft. Das ein oder andere Mal dachte ich schon, den Geräuschen nach zu schließen, er sei im Kampf gefallen. Doch am nächsten Morgen begrüßte er uns am Eingang des Zeltes. Er wedelte mit dem Schwanz und freute sich uns zu sehen. Eine treue Seele und das ganz ohne Gegenleistung. Wir haben leider keine Belohnung für ihn.

Ich ziehe meine nassen Klamotten an, über Nacht sind sie nicht getrocknet und auch am morgen scheint noch kein Sonnenstrahl in diese enge Schlucht. Daniel hat heute Morgen seine Grenzpolizeiuniform an und ein Kollege ist auch bei ihm. Sie kommen zu uns rüber und wollen irgendetwas sehen. Sie schauen sich gezielt um. Daniel findet das englische Wort nicht um auszudrücken, was er meint, Konrad kann wirklich kein rumänisch und so wissen wir nicht was sie wollen. Nach einem Augenblick sehe ich in Daniel nicht mehr den lustigen Gesprächspartner von gestern Abend, sondern nur noch seine Uniform. Ich zeige ihm unsere Reisepässe, vielleicht will  er ja die sehen? Da lacht er nur, die sind ihm egal. Schließlich findet er, was er sucht:  unsere Landkarten. Er zeigt uns,  wo Rumänien liegt und wo das verhasste Serbien ist und wo unsere Heimat, Deutschland, sein muss. Er zeigt uns ein Städtchen in Bayern, wo er mal eine Zeit lang bei  seiner Schwester gewohnt hat. Alle Menschen die wir treffen, waren irgendwann einmal eine Weile in Deutschland.

Als wir Dubova verlassen, versucht unser kleiner Beschützerhund noch eine ganze Weile uns zu folgen. Letztendlich vergeblich, kein Hund kann uns folgen. Es bricht uns das Herz, als wir noch einmal zurückblicken und er dort ganz traurig sitzt und uns nach sieht. Wir werden ihn sicher nie vergessen.

Als wir das Dorf endgültig verlassen haben, wird endlich die Sicht auf die engste Donaustelle frei. Es ist beeindruckend,  wie die manchmal  kilometerbreite Donau hier auf einen Steinwurf weit zusammengepresst wird.

Gleich hinter dem nächsten Flussbogen erwartet uns die nächste Sehenswürdigkeit:  Der Decebalus Rex, ein Monument in Stein gehauen, 40 Meter hoch und 25 Meter breit, es zeigt den Kopf des letzten Königs von Dakien, dem heutigen Rumänien. Sein Name heißt übrigens „so stark wie zehn Männer“ und er herrschte hier bis 106 n. Chr.,  als die Römer kamen.

Etwa 10 Kilometer später, im Örtchen Eşelniţa, finden wir endlich den nächsten Laden, in dem wir Frühstück kaufen können. Drei Brote essen wir an diesem Morgen, ein neuer Rekord. Das  Radfahren und die frische Luft machen richtig hungrig. Wir sitzen hier eine Weile in der Vormittagssonne, heute fehlt der nötige Antrieb,  vorwärts zukommen. Außerdem hat so eine langweilige Dorfstraße überraschend viel, was man beobachten kann: Drei Bauarbeiter kommen zum Beispiel mit ihrem Baustellenfahrzeug an. Beim Aussteigen hat der Fahrer noch einen Songtext auf den Lippen, den er wohl gerade noch im Autoradio volle Bulle gehört hat: “Raz dva tri, Moskau, Posmotri, Pioneri tam idyt, Pesni leniny pojut“. Das kennen wir doch. Irgendetwas sagen uns diese russischen Worte. Wie bei einer Melodie, die man mit einem besonderen Augenblick verbindet, versuchen meine Neuronen im Großhirn auch jetzt blitzschnell eine Verbindung aufzubauen… Heureka, genau jetzt habe ich es: Es ist Rammstein, Deutschlands erfolgreichster Musikexport. Auch hier in Rumänien bestens bekannt. Heimatgefühle kommen dennoch nicht auf. Zwei Hunde unterhalten uns da schon besser:  Einen  geilen Rüden gelüstet es nach einer unwillige Hündin. Es ist ein unterhaltsames Spektakulum zu beobachten, wie der Hund immer wieder versucht,  sie zu besteigen und sie sich geschickt wegdreht. Doch der Hund gibt keines Falls auf, er versucht es immer und immer wieder. Er gibt nicht auf. Und was ist die Moral der Geschichte? ;-) Leider haben wir das „Happy End“ dieser Liebesgeschichte nicht mehr mit erlebt. Durch rumsitzen und Sexualfeldstudien bei hundeartigen Landwirbeltieren  kommt man nämlich nicht den nächsten Berg hoch.

Hinter besagtem Berg liegt die Stadt Orşova. Bei Orşova ist die Donau wieder unheimlich breit, zwar immer noch im Donaudurchbruchstal eingeklemmt, aber durch das Donaukraftwerkes SIP zehn Kilometer flussabwärts am Eisernen Tor mächtig aufgestaut.  Damals, als das Kraftwerk 1971 gebaut wurde und mit  der damit verbundenen Anhebung des Wasserspiegels, mussten die Bewohner umgesiedelt werden und das neue Orşova entstand. Unwiederbringlich verloren ging hingegen die Insel Ada Kaleh inmitten der Donau. Die Insel war insofern besonders, als  sie bis ins 20. Jahrhundert hinein eine übriggebliebene türkische Enklave aus jenen Zeiten war, als die Türken noch über den Balkan herrschten und bis zum Untergang der Insel Ada Kaleh lebten auf ihr Muslime. Sie hatten hier ihre eigene Moschee, ein paar Kaffeehäuser, eine als uneinnehmbar geltende Festung und einen türkischen Basar, außerdem musste man keine Steuern zahlen und so florierte der Handel mit Tabak und Schmuck. Leider kommen wir für diese kulturelle Sehenswürdigkeit eben knapp 40 Jahre zu spät. Die Insel mit ihrer romantischen Geschichte ist versunken.

Als wir Orşova verlassen,  gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Zum einen haben wir unseren 2. Megameter, also 2000 Kilometer geschafft und haben Grund zum Feiern, zum anderen müssen wir von nun an aber einer sehr stark befahrenen Transitstraße folgen. Es gibt für die nächsten 25 Kilometer keine Alternative. Am Anfang fahren wir noch auf einem 30 Zentimeter breiten Fußweg, doch der endet alsbald und wir müssen uns zwischen die Autos begeben. Immer wieder kommen unbeleuchtete Tunnel wo wir uns sehr unwohl  fühlen! Eben noch einsame Dorfstraße - nun pulsierende Hauptmagistrale. Immer wieder ist an Baustellenampeln Stau, wir rollen an der qualmenden Kolonne vorbei und werden von vielen Autos so mehrfach überholt. Ganz zum Ärger dieser, da die Straße nur recht schmal ist.

Etwa auf der Hälfte des unangenehmen Straßenabschnittes liegt nun das gigantische Wasserkraftwerk SIP, ein gemeinsames Bauprojekt von Rumänien und dem ehemaligen Jugoslawien. Photographieren ist hier streng verboten und überall ist Schutzpersonal und Videoüberwachung. Weiter geht’s nach Drobeta Turnu Severin, der größten Stadt der Gegend mit über 100.000 Einwohnern.

Wir fahren ein wenig durch die Stadt, auf der Suche nach Filmen für unseren Fotoapparat. Drobeta Turnu Severin zeigt die facettenreiche rumänische Baukunst, schöne geschwungene Kirchen, ein kunstvoller Wasserturm und eine Prägung die noch aus der Römer- und Dakerzeit herrührt. Den Namenszusatz Drobeta erhielt Turnu-Severin erst mit dem Bau des großen Staudammes. Er soll an die römischen Ursprünge erinnern.  Hier lag nämlich deren Stadt Drobeta. Von der aus Kaiser Tranjan zur Logistikunterstützung seiner Feldzüge eine Brücke ins heutige Serbien hinüber bauen ließ. Die Trajansbrücke war die erste dauerhafte Brücke über die untere Donau. Sie  war  -sowohl hinsichtlich ihrer Gesamtlänge,  als auch ihrer Bogenspannweiten - über  eintausend Jahre die längste Brücke der Welt. Leider wurde sie von einem späteren Nachfolger Trajans, der hier nicht genannt werden will, aus Neid zerstört. Noch heute findet man auf dem Grund der Donau aber ihre Fundamente.  Die Pfeiler waren auch aus Stein, die zwanzig Bögen aus Holz und an den beiden Enden der Brücke sollen Triumphbögen gestanden haben. Früher!   Heute zeigt die Stadt  aber auch ihre andere nichts so schöne Seite: hässliche Plattenbauten säumen die zum Teil völlig zerstörte Straßen, dazwischen leben scheinbar selbstständig Hühner und Schweine.

Kurz vor dem Ortsausgang können wir nun die Europastraße 70 verlassen und etwas ruhiger weiter fahren. Auf einem schnurrgeraden Fahrweg, der auch noch etwas erhöht auf einem Deich liegt, bläst uns dafür gnadenlos der Wind entgegen. Wir sind ziemlich kaputt, schon am morgen wäre ich am liebsten beim Frühstücken einfach sitzen geblieben, die unruhige letzte Nacht mit den ganzen Hunden steckt uns noch in den Knochen und nun der Gegenwind – er saugt uns die letzen Kräfte aus. Wir beschließen,  heute mal über den Nachmittag hinweg eine Siesta zumachen, uns Erholung zu bieten bis der Wind nachlässt. Wir legen uns fernab der Straße unter einen Strauch direkt an die Donau. Der Fluss hat schon eine Weile das Donaudurchbruchstal verlassen und fläzt sich hier in einer außerordentlichen Breite in die Landschaft. Man meint an einem großen See zu liegen. Keine Strömung ist wahrnehmbar. Das Wasser ist klar und der Boden sandig.

Wir dösen eine Weile vor uns hin, der Wind treibt die Wolkenbilder über das endlose Land, Konrad liest etwas, das Wasser plätschert ruhig und monoton vor sich hin, ich schlafe ein und träume sogar ein wenig. Vielleicht hätten wir hier bis zum Abend gelegen und wären nur nochmal zum Zelt aufbauen aktiv geworden, doch plötzlich endet der stille Frieden mit lautem und schnell näherkommendem Gekläffe. Wir sind von einer Sekunde auf die andere hell wach und ich suche verzweifelt nach dem Pfefferspray.  Hätte der Zigeunervater* seinen Hund nicht zurückgepfiffen, wäre uns wohl nichts anderes übrig geblieben und wir wären in die Donau gesprungen und weggewatet. Aber der Hund hört auf seinen Besitzer.  Zum ersten Mal sehen wir einen Zigeunertrekk*. Alles Hab und Gut ist auf einen Pferdewagen gepackt.  Die Familie hat wohl auch gerade eine Pause gemacht.  Sie ziehen so schnell weiter, dass man fast denkt,  man hätte noch geträumt. Wir hoffen,  diese Volksgruppe noch öfter in Rumänien zu sehen:  Unser Interesse an ihrem Nomadenleben ist groß.

Wieder hellwach , ziehen wir weiter. Die Straßen werden immer schlechter und hinter dem Dorf Tismana für Autos unzumutbar. So fahren wir allein durch die endlose Weite der Walachei. Kilometer weit sind alleine die großen Bäume eine einzige Abwechslung zur natürlichen Steppenvegetation. Riesige Vogelschwärme fliegen unter lauten Flügelschlägen auf, wenn wir unter einem ihrer Bäume durchfahren. Einziges Highlight ist ein Brunnen der auf einmal am Weg steht. Er funktioniert noch und sein Wasser ist so klar, dass man es vermutlich auch trinken könnte. Wir duschen uns aber stattdessen den Staub von den Körpern und erfrischen uns vor der Weiterfahrt. Das Wasser ist so angenehm kühl in der sengenden Hitze, dass die Verlockung wieder riesengroß ist, einfach hier zu bleiben.

Viel weiter fahren wir auch nicht mehr. Noch durch zwei urige Dörfer, in den man denken könnte, dass man noch im 19. Jahrhundert lebt. In einem müssen wir uns nochmal einer Hundebande stellen. Die Taktik haben wir ein wenig modifiziert: Wir fahren nicht mehr, sondern schieben die Fahrräder als Schutzschilde neben uns her. Einer nimmt das schwere Eisenkettenschloss als Dreschflegel, der andere das noch immer jungfräuliche Pfefferspray. Aus voller Fahrt sind beide Waffen quasi untauglich. Langsam schieben wir Legionäre uns an der feindlichen Armee vorbei, auch sie zeigen uns ihre Waffen, die gefletschten Zähne. Wir haben beide ziemlich Schiss, weil man es mit sieben Hunden zwar aufnehmen könnte, aber wir dennoch nicht schadlos einen solchen Kampfplatz verlassen würden. Bis zur nächsten Tetanus-  und Tollwutimpfstelle wäre es sicher ein weiter Weg. Wir sind hier in der Walachei. Zu mehr als diesem Säbelrasseln kommt es aber  nicht, die Hunde greifen nicht an. Vielleicht erinnern wie sie nun - so langsam die Fahrräder schiebend - mehr an normale, schwerbeladene Dorfbewohner als an Feinde des Haus und Hofes.  

Bis zu einem steilen Anstieg auf den wir beide keinen Bock mehr haben, fahren wir noch weiter. Vermutlich müsste man da sogar hochschieben, da die Räder auf dem losen Untergrund zu wenig Halt hätten. Wir biegen einen kleinen Weg direkt zu einer Wiese an der Donau kurz hinter Crivina ab.

Nach dem Zeltaufbauen, dem Abendnudeln kochen, der provisorischen Katzenwäsche in der Donau und dem in die Schlafsäcke kriechen, passiert heute nur noch eine Begebenheit. Es ist schon stockfinster, als Taschenlampenkegel unser Zelt von außen beleuchten. Wer wird das sein? Was will der von uns? Das Pfefferspray wird wieder wild gesucht. Dann klopft dieser Jemand sogar an das Zelt und spricht uns an. Erst auf rumänisch, dann auf englisch: Es ist die Poliţia de frontieră română, die rumänische Grenzpolizei. Leute wie Daniel, nur dass diese beiden sich sehr für unsere Pässe interessieren. Wir werden auch in einem Büchlein vermerkt, mit all unseren Daten die sich in dem Pass so befinden. Die Polizisten waren sehr freundlich, erklärten,  sie müssen das zum Schutze der EU machen, auf der anderen Flussseite sei  ja Serbien und damit EU-Ausland. Sie entschuldigen sich für die Unannehmlichkeiten, Wünschen uns eine gute Nacht und gehen wieder.

Es ist ein traumhaft schöner Abend, der Himmel war niemals zuvor so reich an Sternen. Auf der anderen, weit entfernten Seite der Donau liegt ein kleines Dorf, man sieht nur die Lichter. Hundebellen tönt ganz leise herüber. Ich empfinde es in diesem Moment nicht als störend, eher im Gegenteil. Am Waldesrand, nicht weit von uns, hören  wir ein paar Pferde- oder Eselskarren durch die Dunkelheit fahren. Es sind wieder Zigeuner* die abseits der großen Straßen auf einem nur ihnen bekannten Wegenetz durch die Lande reisen.  Fast könnte man sie für diese Freiheit beneiden.

 

*) Politisch korrekt ist nicht der Begriff Zigeuner, sondern Roma. Da wir aber keine rassistischen oder diskriminierenden Vorurteile pflegen, eher das Gegenteil mit solchen Reisen leben, erlauben wir uns das wohl bekanntere Wort Zigeuner auch weiterhin zu verwenden.

 

#20

Mittwoch, 03.09.2008

Crivina - Maglavit - Rast

130,0 km

6:20 h

av. V = 20,5 km/h

↗ 283 hm

↘272 hm

av. P = 60 W

18°C - 34°C, sonnig

41 RON (Leu/Lew)

 

Heute überlasse ich wieder einmal Konrads Tagebuch das Wort. Vorhang auf. voilà:

„3.9.2008   20. Tag    Von ? bis Rast

Es war wirklich eine gute Nacht. Geweckt werden wir von Kuhglockengeläut. Wir stecken unsere Köpfe aus dem Zelt und sind umzingelt von Kühen. Ein kleiner Junge treibt sie die Donau entlang und an unserem Zelt vorbei. Sowas erlebt kein Pauschaltourist, dass ist das urige Rumänien, was man nur mit dem Zelt erleben kann.

Vor dem Frühstück wartet noch der Berg, vordem wir gestern gekniffen haben. Also die Kette ganz links, auf dem leichtestem Ritzel geht es den Anstieg hoch und sind schon, bevor es überhaupt Frühstück gab, total durchgeschwitzt. Wenigstens gibt es im nächsten Dorf, Burila Mare, einen Laden, hier “Magazin“ genannt. Da der Bäcker noch keine Brote in diesen Dorf gebracht hat, kaufen wir einen brotgroßen, eingeschweißten Kuchen. Mh, er schmeckt trocken und irgendwie staubig. Und dann sehe ich es… Schimmel ! Wir haben einen durch und durch verschimmeltes Kuchenbrot gegessen. Also geht es sofort wieder rein in den Laden und Regressforderungen gegen die Ladenbesitzerin geltend gemacht. Alles was Recht ist. Man verweist mich auf das noch nicht abgelaufene Mindesthaltbarkeitsdatum. Auch die anderen Kuchenbrote im Laden sind alle verschimmelt. Man versteht meine Forderung nach Rückerstattung des Kaufpreises nicht, resigniert dann am Ende aber doch und zahlt uns aus.

Wir fahren noch immer ein wenig hungrig, aber dennoch glücklich weiter. Das Wetter ist wie immer gut und die Landschaft wirkt wie einer Zeitreise entsprungen. Genau deswegen machen wir diese Tour. Frühstück finden wir etwas später im nächsten Dorf. Der Laden ist noch im Bau, aber man freut sich so sehr, dass wir hier sind und Frühstück einkaufen, dass man uns noch reichlich mit Obst beschenkt. Das gekaufte Dosenfleisch (Stefan denkt es sind Innereien) essen wir aber nicht auf. Wir sind nicht die einzigen auf der Baustelle, andere Dorfbewohner treffen sich hier zum Plausch.

Bei der Weiterfahr kommen uns immer wieder mit voll beladene Pferdewagen mit Mais und anderem Getreide entgegen. Nach ein paar Kilometern kommt ein als “Spießrutenlauf“ im bikeline-Reiseführer bezeichnete Abschnitt. Er ist es auch. Plötzlich auftauchende Schlaglöcher, tief und manchmal unausweichbar. Und das obwohl mir doch schon eine Speiche gebrochen ist und fehlt. Am Ende bleibt aber alles ganz. Einen letzten Blick können wir nun zwischen zwei Hügeln hindurch und über die Donau hinweg auf Serbien richten. Von nun an liegt Bulgarien auf der anderen Seite des ständigen Grenzflusses.

Wir optimieren heute die Route des bikeline-Reiseführers und sparen uns 20 Kilometer und die Stadt Calafat. Wir fahren fast ganz allein auf der Straße. Dabei überholen wir einen Mann, der in die gleiche Richtung läuft wie wir, nur dass er für die 12 Kilometer bis zum nächsten Dorf ein klein wenig länger brauchen wird. Wo will er überhaupt hin? Und was macht er dann da? Fragen die man sich in Rumänien oft stellt. Die Leute haben hier scheinbar viel mehr Zeit.

In Rast entscheiden wir uns wieder an die Donau zufahren (Man fährt fast immer kilometerweit entfernt zur Donau, es gibt keine Straßen direkt in Ufernähe) und wieder wild zu campen. Wir landen in einem Urwald. Ein kleiner Seitenarm der Donau trennt uns vom wilden Dschungel. Der einzige Fleck wo das Zelt im Gewucher Platz findet, liegt direkt an der Klippe. Steil geht es 5 Meter nach unten. So zelten wir halb auf dem Weg, halb in der Donau. Einmal fährt ein Auto mit Jugendlichen an uns vorbei. Wir vollführen kläglich unsere Abendwäsche, da man zum Fluss die Klippe hinunter muss und dort dann knietief im Flussschlamm versinkt. Später langweilen wir uns. Außer Wald ist nichts zusehen und außer Hunden nichts zuhören. Verdammt sind die hier überall? Wir verkriechen uns ins Zelt, das Pfefferspray immer bereit. Wieder passiert uns nix, man lässt uns in Ruhe.

Mein Handy erwacht nach 2 Tagen der Totenstarre plötzlich wieder zum Leben und funktioniert wie früher. Donauwasser scheint nicht so schlimm zu sein.   

 

#21

Donnerstag, 04.09.2008

Rast - Bechet - Corabia - Turnu Măgurele

140,9 km

6:24 h

av. V = 21,9 km/h

↗ 136 hm

↘147 hm

av. P = 80 W

13°C - 39°C, sonnig und heiß

46 RON (Leu/Lew)

 

Wir stehen recht zeitig auf, schieben die Fahrräder aus dem Wald, kommen an einer Baustelle vorbei, werden daher von Hunden attackiert und radeln los.

Im  Örtchen Rast kaufen wir uns Frühstück und setzen uns vor dem Laden auf eine Bank in die Morgensonne. Schnell werden wir zum Gesprächsthema in und um den Laden herum. Ein Mann, der auch ein wenig deutsch spricht,  interessiert sich sehr für unsere Reise und fragt uns Löcher in den Bauch. Das schmeichelt uns natürlich sehr, er hat auch ein paar Tipps für uns auf Lager, als wir ihm unseren weiteren Routenverlauf erklären. Wir wollten in Corabia die Fähre hinüber nach Bulgarien nehmen. Er meint wir sollten unbedingt  schon 50 Kilometer eher die Fähre in Bechet nutzen. Begründen tut er diesen Ratschlag aber nicht. Daher bleiben wir bei unserem Plan und können so noch 50 Kilometer länger in einem der schönsten Länder Europas bleiben.

Wir könnten heute auch auf Autopilot schalten, den ganzen Tag werden wir auf ein und derselben Straße noch knapp 120 Kilometer fahren. Doch Fahrräder am Beginn des 21. Jahrhunderts haben noch keinen Autopilotmodus. Flugzeuge ja, Fahrräder aber nicht. Uns so fahren wir immer und immer gerade aus, jedes Dorf sieht gleich aus: Die bunten Häuser, mit ihren kleinen Säulen und Verzierungen am Dach, die entlang der Straße gebaut sind, die Kirche, jedes Dorf hat  ein Denkmal für den rumänischen Unabhängigkeitskrieg, es hat einen Laden für allerlei Lebensmittel, oft kaufen wir eine leckere Pampelmusen-Limonade, die aus Moldawien importiert wird und genauso wie die Fanta PinkGrapfruit des CocaCola-Konzernes schmeckt, die dieser jedoch zu meinem Bedauern seit nunmehr 10 Jahren nicht mehr im Sortiment hat.

Zwischen den Dörfern ist in endloser Entfernung nichts zu sehen, wenn der Linienbus nach Bukarest mal vorbeigeknallt kommt, sieht man seine Staubwolke auch 10 Minuten später noch weit vor sich. Panait Istrati beschrieb, wenn auch vor einem politischem Hintergrund, in seinen “Disteln des Baragan“ das Gefühl das diese Landschaft in einem jeden erzeugt ganz treffend. Seine Figur Matache träumt lange davon, den im Wind davon rollenden Distelballen durch die Steppe hinterherzurennen. Völlig ziellos und unendlich weit weg. Mit seinem Freund tut er es auch eines Tages und wird fürs erste dadurch glücklich. Die Geschichte nimmt aber kein gutes Ende.

50 Kilometer oder 10 Dörfer nach Rast endet die Eintönigkeit – Eintönigkeit aber nicht negativ gemeint, eher wie das Meer, was ja auch bis zum Horizont gleich aussieht und dennoch Glücklich macht - an einer Brücke. An der einzigen Brücke, über den Donauzufluss Jiu im Umkreis von 20 Kilometern. Die Brücke wird gerade gebaut und hat im Moment nicht mal eine Fahrbahn, nur ein dünnes Brett für die Arbeiter verbindet die Pfeiler. Ein Sperrschild verbietet die Weiterfahrt. Tolle Wurst. Wir überlegen eine ganze Weile hin und her und spielen gedanklich alle Optionen durch. Variante A: Einen Umweg von 40 Kilometer fahren. Diese Variante wird mit zwei Gegenstimmen, bei keinem Dafür-Votum und keiner Enthaltung rigoros abgelehnt. Variante B: Durch den Fluss gehen. Ich testete es aus, das Wasser war nicht zu tief, man müsste die Fahrräder und das Gepäck einzeln rüber tragen und wäre eben eine Weile beschäftigt. Konrad legt hierfür aber sein Vetorecht ein. Variante C: Wie die Bauarbeiter auch das schmale Brett nutzen. Konrad beschließt für uns beide Variante C. Langsam nähern wir uns ganz unauffällig der Baustelle, schauen den Arbeitern ein wenig zu wie sie barfuß mit dem Presslufthammer zwischen ihren Füßen Beton abhauen. Wir zählen ihre Zehen und nähern uns unserem Ziel. Die Arbeiter sind freundlich – scheinbar hat heute noch keiner daneben gehackt - und machen uns sogar Platz, als sie uns sehen, um über das Brett auf die andere Seite des Flusses zugelangen. Die Bauarbeiter sind aus Bulgarien. Bulgarische Arbeiter bauen also in Rumänien. Rumänische Arbeiter bauen in Deutschland. Deutsche Radfahrer radeln durch Rumänien und bald auch Bulgarien. Global World.

In Bechet machen wir eine Eispause, der Getränkelieferant der den Laden gerade beliefert, hatte seine Ladung nicht gesichert und so ist alle Getränkekisten im LKW umgekippt und völlig durcheinander. Niemanden juckt es. Wir überlegen nochmal kurz hier nach Bulgarien überzusetzten, halten aber an unserem Plan fest. So fahren wir weiter. Nochmal 50 Kilometer auf derselben Straße bis Corabia. Alle 1000 Meter steht ein großer Kilometerstein, auf ihm immer die Streckenangabe bis zum nächsten Dorf und bis zur nächsten größeren Stadt. In den Dörfern lassen die Leute immer alles stehen und liegen, wenn sie uns sehen, die Kinder rennen an die Straße und wollen uns abklatschen und jubeln uns zu. Wir fühlen uns wie Tour de France Helden und genießen die Begeisterung.  In jeder Ortschaft heißt man uns willkommen.

Corabia selber wirkt sehr verfallen. Der Name klingt, wie vieles in Rumänien, nach Latein oder zumindest spanisch oder italienisch. Das hat auch seinen Grund: Frühere Seeleute sind nicht nur im Mittelmeer und im Schwarzen Meer umher gesegelt, sondern haben auch Handel entlang der Donau geführt. Einige fanden es hier so schön, oder ihr Schiff ist wie im Fall Corabia gesunken, so dass sie für immer da geblieben sind.

Wir fahren die Straße an die Donau und suchen die Fähre, doch wir sehen keine, nicht mal eine Anlegestelle ist zuerkennen. Man sagt uns schließlich in Corabia gab es nie eine Fähre. Der bikeline-Reiseführer hat mal wieder gelogen und falsches Zeug in seine Karte gemalt, ich bin fuchsteufelswild und stinksauer. Im Affekt rufe ich mit meinem, wieder auferstandenem, Handy aus Rumänien beim bikeline-Verlag an, beschwere mich und lasse Dampf ab. So eine Sauerei, so ein mangelhafte Arbeit und dafür verlangen sie auch noch Geld. Die Frau am anderen Ende irgendwo in Österreich gesteht meine Beschuldigung. Der Verlag hat nicht wie beschrieben, die ganzen Infos selber vor Ort recherchiert, sondern einfach im Internet gegoogelt. Ich lege nach zig scheinheilgen Ausreden entnervt auf und verbanne den Reiseführer in die Tiefen meiner Packtasche. Für immer. Der Man heute früh hatte recht. Mist. In Turnu Măgurele, 35 Kilometer weiter, soll es (laut Reiseführer) noch eine Fähre geben. Gebe es Gott. Trotzdem ein  70 Kilometer-Umweg.

Ein freundlicher Mann hellt unsere Stimmung wieder auf. Wir saßen die ganze Zeit auf der Bank vor seinem Haus, nun lädt er uns in seinen Garten ein um Weintrauben zu essen. Wir sollen uns soviele pflücken wie wir wollen, er packt uns außerdem noch einen großen Beutel voll. Bei einem Eis etwas später, beschließen wir heute noch 20 Kilometer weiter zufahren und dann an einem Zufluss zur Donau zu zelten. Während wir unsere neue Landkarte inspizieren, läuft eine große Gänseherde völlig selbstständig über die Straße. Kennen die etwa den Weg nach Hause?

Die letzen Kilometer ziehen sich ewig hin, trotz des leichten Rückenwindes. Am besagten Fluss Olt sind die wildcamping Bedingungen dafür dann hervorragend. Nicht so ein Schlammloch wie gestern. Nein feinster Sandstrand. Direkt im Sand noch bauen wir unser Zelt auf und beginnenden eingeschliffenen Abendablauf. Zelt einräumen, Wertsachen verstauen, Fahrräder anschließen, nicht stinkige Klamotten anziehen, Nudeln und Soße kochen und sich sowie das Geschirr waschen.  Seit Smederevo konnten wir nicht mehr duschen. Seit 5 Tagen haben unsere Körper keine Seife mehr gefühlt, nicht das ich darauf stolz wäre, aber es ist wohl ein Rekord in meinem Leben, zumal wir ja jeden Tag ohne Ende schwitzen und durch staubiges Gelände fahren. Im Fluss Olt baden wir aber mal richtig. Er ist so klar, nicht mal Algen wachsen in ihm. Nur Wasser auf Sand. Dafür hat er eine ordentliche Strömung so dass man immer in Ufernähe bleiben muss. Dagegen anschwimmen könnte man wohl nicht und wer will schon vom Olt in die vielleicht 1,5 Kilometer breite Donau gespült werden? 

Beim Abendessen wird es surreal: Kühe kommen den Strand entlang gelaufen. Wir sitzen vorm Zelt am Strand und inmitten einer Rinderherde. Solange es keine Hunde sind, ist alles super. Nur dass sie ständig ihre Fladen verlieren ist doof. So wird der Weg zum Abwaschen am Fluss zu einem Marsch durch ein Minenfeld.

Drei Wochen sind wir nun schon unterwegs. Wir sind in einer anderen Welt gelandet.

 

#22

Freitag, 05.09.2008

Turnu Măgurele - Corabia - Bechet - Kneža (BUL)

133,1 km

6:36 h

av. V = 20,1 km/h

↗ 428 hm

↘299 hm

av. P = 100 W

19°C - 37°C, sonnig und heiß

67 RON (Leu) &

13 BGN (Lew)

 

Der feine Sand von unserem Flusssandstrand hat sich überall im Zelt und in dem Reisegepäck verteilt. Beim vorfrühstücklichen Energieriegelverzehr knirscht der Sand sogar zwischen den Zähnen.

Bis Turnu Măgurele sind es nur noch wenige Kilometer, die Straße ist sehr schlecht, wird aber gerade neu gebaut. Auf beiden Fahrbahnseiten patrollieren Dampfwalzen und bringen so eine neue Schicht Asphalt in Form. Ich denke in ein oder zwei Jahren könnte man auch theoretisch vom Donaudurchbruch bis hierher mit dem Rennrad fahren. Dicke Bereifung ist dann nicht mehr von Nöten, weil die Qualität der neuen Straßen, jener in Deutschland in nichts nachsteht. 

Die Stadt Turnu Măgurele ist die erste größere Stadt seit Drobete Turnu-Severin und so findet man hier auch gute Einkaufsmöglichkeiten. Das Bild dieeser Stadt erinnert nicht mehr an die Weite der Walachei und die Zeitreise, welche man in ihr zumachen scheint. In einem gepflegtem Park setzen wir uns auf eine Bank und frühstücken wieder fürstlich. Wir haben alles gekauft, worauf wir Lust hatten. Natürlich wieder die leckere Limo aus Moldawien, aber auch einen cremigen Kuchen, Baguette, Marmelade und allerlei andere Leckereien. An diesem Morgen laufen viele gut gekleidete Männer und Frauen an uns vorbei auf Arbeit. Von der markanten Kirche hinter uns im Rücken ruft eine Art orthodoxer Muezzin mit klangvoller Stimme melodische Worte. Ein Hauch von Orient, gemischt mit Balkanstimmung, umweht uns. Dem Kirchturm ist eine Zwiebel-Kuppel aufgesetzt und sein Baumeister hat ihm eine Dynamik verliehen, so dass der Turm in sich, wie eine Spirale, verdreht ist.

Auf einem Ostblock-Plattenweg fahren wir dann die zirka drei Kilometer bis zur Donau an die Fähranlegestelle, vorbei an einer qualmenden Industrieanlage.

Alles ist gut, bis auf diese eine Kleinigkeit: Es gibt hier keine Fähre. Es ist kein Schiff am Wasser, was uns mit zum anderen Ufer nehmen könnte. Ein Schild verweist zwar auf einen “Cross Border Check Point“ und ein “Ferry Boat to Nikopol (Bulgaria)“, aber de facto ist beides hier nicht in der Realität zu finden. Erst wollen wir es nicht glauben, fahren die Donau ein wenig in beide Flussrichtungen auf und ab, doch schließlich begreifen wir, dass sowohl die Informationen gestern aus Corabia, als auch der bikeline-Reiseführer mal wieder falsch waren. Einen weiteren Anruf nach Österreich spar ich mir heute. Es hat ja doch keinen Sinn. Wir sind am Boden zerstört und setzten uns an einen Getränkestand, der hier für die Pause der Arbeiter der Industrieanlage aufgestellt worden ist.  Keiner kann uns Infos über die Fähre, welche ja genau hier ab- und anlegen soll, geben. Wir trinken etwas, sitzen rum, gucken unsere Karten an, sehen nochmal nachdem Schild, was von einem Grenzpunkt und einer Fähre berichtet und vergleichen es mit der Realität. Keine Fähre, nicht hier und nicht in Corabia, nur in Bechet ist sicher eine.

Wenig später gesellt sich ein weiterer Mann zu uns und erfährt von den Problemen die wir mit unserem Routenverlauf haben. Er kann sehr gut englisch und klärt uns auf: Die Fähre befindet sich gerade im Bau, aber sie wird schon bald wieder losfahren. Wie bald? Heute Nachmittag? Vielleicht, sagt er, vielleicht aber auch erst nächste Woche oder in einem Monat. Keiner weiß etwas. Er erklärt uns die Alternativen, die wir haben. Eine weitere Fähre aus dem bikeline-Reiseführer, etwa 40 Kilometer weiter existiert, seiner Meinung nach, nicht. Das wundert uns nicht weiter, das Fährsymbol sitzt beim bikeline-Verlag bekannter Weise etwas locker. Noch einmal 55 Kilometer weiter, als knapp 100 Kilometer von hier ist eine Brücke in Giurgiu hinüber nach Ruse in Bulgarien. Ob Fahrräder sie benutzen dürfen weiß er allerdings nicht. Wir könnten auch zurückfahren und in Corabia die Fähre nutzen… Stopp, wie klären ihn auf, dass es in Corabia keine Fähre gibt. Langes Schweigen und ins-Nichts-starren folgt. Die einzige Möglichkeit die wir haben und die wirklich sicher funktioniert, ist die Fähre von Bechet. Und in Bechet waren wir ungefähr gestern um dieselbe Zeit gewesen. Was für ein Griff ins Klo.

Naja es hilft ja alles nichts. Wir bedanken uns bei dem Mann für die Mithilfe bei der Erörterung unserer Situation und brechen wieder auf.  Er fragt uns noch, ob wir uns nicht wundern, wie gut er Englisch spricht. Er habe alles durch Hollywoodfilme gelernt, weil er sie nur in Originalsprache hört. Und darauf ist er stolz. Zu Recht. Englisch kann in Rumänien nämlich fast niemand.

Ochnee … Zurück… Den ganzen Weg noch einmal zurück und auch noch mit Gegenwind. Konrad merkt von meinem moralischen Durchhänger und übernimmt das Heft des Handelns. Wie ein Stier stellt er sich dem Wind und der Herausforderung und führt uns die 85 Kilometer zurück nach Bechet. Neues sehen wir freilich nicht. In Corabia steht der Weintraubenmann am Zaun und schaut uns entsetzt an, wir müssen loslachen. Was der wohl denkt, ob wir jetzt immer kreuz und quer durch die Walachei fahren. Hoffentlich dachte er nicht, dass wir ihn auslachen. Wir fahren durch all die Dörfer, die wir schon kennen, die Kinder jubeln uns wieder zu, doch ich empfinde es als Hohn.

Immer wieder machen wir Pausen, einmal auch exakt an derselben Stelle, an dem selben versiegten Brunnen, wie Tags zu vor. Die Sonne knallt erbarmungslos auf uns herab, nur hin und wieder bieten Bäume Schatten. Riesige Vogelschwärme fliegen, wie wir, gen Süden. Kein Fluss kann sie aufhalten.

Immer wieder überholen wir Pferdefuhrwerke, die den Verkehr auf der Straße dominieren. Autos sind eine Seltenheit. Als Radfahrer ist man ein kleines Stück schneller und so kann man beim Vorbeifahren ein Blick auf ihre Ladung werfen. Manchmal ist es die Ernte, die ins Dorf gefahren wird. Manchmal sind es ganze Familien. Hin und wieder sind auch Zigeuner dabei, die ihrem Nomadenleben nachgehen. Immer springt auch ein Hund irgendwo herum. Alles ist aber ganz friedlich. Bei einer Pause, fragt uns ein Mann mit Eselfuhrwerk, wo wir herkommen. Aus Amerika? Nein, aus Deutschland. Er liebt Deutschland sagt er. Wie lieben sein Land rufen wir zurück. Er ist begeistert und meint, dass er sein Land auch überalles liebe. Er ist so glücklich. Er ist so zufrieden. Er sitzt auf seinem Eselkarren und strahlt über das ganze Gesicht, als er in die ewige Weite seiner Heimat schaut.

Nach fünf Stunden etwa erreichen wir Bechet. Man erinnere sich an den Mann der uns gestern Morgen diesen Grenzübergang dringend empfohlen hatte. 170 Kilometer Umweg später sehen wir die Sache ziemlich genauso wie er. Schwamm drüber, wir sind an einer Fähre nach Bulgarien.

Wir versuchen noch so viel rumänisches Geld wie möglich auszugeben und essen noch das eine oder andere Eis und trinken noch die ein oder andere Cola. Aber es muss auch noch genügend Geld für die Fähre bleiben. An der Grenzstation nimmt man uns für ein MaxiBon-Eis, welches in der Mensa der Technischen Universität Dresden 1,20 € kostet, umgerechnet 5€ ab. Hier wurden wir zum ersten Mal, nach dem Hotel von Vukovar, wieder übers Ohr gehauen und zahlen einen anderen Preis als die Einheimischen. Doch das Eis ist schon geöffnet, als uns der Betrug klar wird.

Die Fähre selbst war dann spottbillig - wir hatten noch viel zu viel rumänisches Geld übrig - bot aber auch keinerlei Komfort. Wir mussten noch eine Stunde am Ufer warten und konnten dann unsere Fahrräder zwischen den vielen Transit-LKWs abstellen. Der Stahlkahn fährt eine kleine Ewigkeit über die Donau, wir sind bestimmt eine halbe Stunde unterwegs. Der Fluss ist so enorm breit und die Strömung zieht das Boot ganz schnell weg, dagegen anzukämpfen braucht dann eben seine Zeit. Am anderen Ufer können wir schon eine etwa 200 Meter hohe Bergwelle sehen, die wir nach unserer Ankunft hoch müssen. Das dauert allerdings nochmal eine Weile, da wir erst noch nach Bulgarien einreisen und an der Grenzstation vorbei müssen.  Photographieren ist wieder streng verboten, aus einem Grenzfoto wird nichts. All die Truckerfahrer drängen auf den einen Grenzbeamten ein, er möge sie doch einreisen lassen. Da wir keine nennenswerte Ladung haben, geht es bei uns dann – als wir endlich dran waren – ganz schnell.

In einer Wechselstube versuche ich unsere überflüssigen Lei in bulgarisches Geld zu tauschen. Ohne Erfolg. Nirgends möchte man mein rumänisches Geld. Dabei sind die Scheine doch so schön, haben sie doch sogar eine transparente Stelle wo man durch sehen kann. Außerhalb von Rumänien hat diesen Geld aber kaum einen Wert.

Wir suchen und finden in Orjahovo, dem Ort unserer bulgarischen Ankunft, einen Geldautomaten. Auch hier hat man mit der ec-Karte keine Probleme an sein Vermögen heranzukommen. Anschließend kaufen wir noch ein wenig Lebensmittel ein und machen uns dann auf die Suche nach einem Zeltplatz.

Der Anstieg den Berg hinauf ist steil, bergiges Fahren sind wir gar nicht mehr gewohnt. Ein letztes Mal können wir die Donau sehen und uns von ihr verabschieden, bevor es weiter ins Landesinnere von Bulgarien geht. Zwei Wochen haben wir sie, oder sie uns, begleitet.

Von nun an geht es leicht wellig durch eine von Landwirtschaft geprägte Region. Bis zum Etappenziel Kneža, wo es einen Zeltplatz geben soll, sind es noch etwa 30 Kilometer. Wir müssen uns sputen, den an und auf der Fähre haben wir viel Zeit liegen lassen. Die Sonne geht schon langsam unter. Teilweise liefern wir uns ein Rennen mit einem Traktor, auf ebener Strecke und bei Abfahrten sind wir im Vorteil, bergauf holt er dann aber wieder knatternd das verlorene auf. Am Ende gewinnt er.

Am Ortseingang von Kneža brennt wieder Müll am Straßenrand, Anblicke die wir in Rumänien fast vergessen hatten. Hunde streunen durch die Abfälle und suchen essbares. Uns nehmen sie gar nicht war. Wir fragen  ein paar ältere Damen, wo es denn zum Zeltplatz geht und erfahren, dass es keinen gibt. Um uns dennoch irgendwie waschen zu können und Nudeln zu kochen, bitten wir die Frauen unseren 5-Liter-Wassersack aufzufüllen. Der Wunsch wird uns gerne erfüllt. Einen Platz fürs Zelt bietet man uns aber leider nicht an. Wir gurken noch ein wenig durch die Stadt, die von einem Abwasserkanal durchzogen wird und fahren dann langsam aus dem Ort hinaus, in jene Richtung in die wir morgen weiter ziehen wollen. Kneža ist schon fast zu Ende, als wir unser Nachtlager hinter einem, sich im Rohbau befindlichem, Haus am Rande des Waldes aufschlagen. Wir fühlen uns mehr wie Obdachlose, den wie Abenteurer oder gar Urlauber. Zwischen ein paar Kiefern, auf den staubtrockenen Boden, errichten wir das Zelt.

Abendessen ist schnell gemacht. Eine Dusche gibt es auch am sechsten Abend in Folge nicht. Nicht mal einen See, Fluss oder Bach. Morgen, komme was da wolle, werden wir am Abend duschen. So ist es einfach kein angenehmes Leben mehr. Verschwitzt und verdreckt müssen wir ins Zelt kriechen. Den Schlafsack versuche ich so wenig wie möglich zu kontaminieren, in dem ich mich einfach nur darauflege. Es ist noch immer unglaublich heiß an diesem Abend. Ich transpiriere sogar im liegen noch weiter. Mein T-Shirt, was ich tagsüber immer trage, ist schon so steif und speckig, dass ich es schon hinstellen kann und es nicht in sich zusammen fällt. Dagegen habe für die Nacht ein fast schon blütenreines Schlaf-T-Shirt. Konrad hat eigentlich ein Rotationssystem, was seine Kleidung angeht, aber auch ihm gehen nun die Möglichkeiten zum Wechseln aus. Das TU Dresden–Symbol lacht mich von seiner Brust nun auch schon seit einer Woche an.

Wir können beide ewig nicht einschlafen. Ein paar Häuser weiter scheint in einer Baracke eine Disko zu sein. An den Nerven nagender HipHop und R&B-Sound schallt herüber und quält uns, dazu das Gegröle, das Bass-Gewummere und das obligatorisches präsentieren der getunten Karren, natürlich mit Vorführung der phänomenalen Beschleunigungsleistungen, quietschender Reifen und der Musikanlage. Naja es ist Freitagnacht, wer will es ihnen verübeln?  

 Wiiiiiiiiir!!!

 

#23

Sonnabend, 06.09.2008

Kneža - Pleven - Lovech - Troyan

122,0 km

5:35 h

av. V = 21,8 km/h

↗ 932 hm

↘680 hm

av. P = 100 W

19°C - 40°C, sonnig und extrem heiß

133 BGN (Lew)

 

Wir stehen recht zeitig auf - die Disko hat erst vor ein paar Stunden die letzten Gäste vor die Tür gesetzt und ist verstummt - weil in Bulgarien wildcampen grundsätzlich verboten ist. In Rumänien hat sich da kein Gesetzeshüter dran gestört, wohl auch um den Zigeunern ihr natürliches Leben zulassen und ihnen ihre Freiheit zu ermöglichen. Wie die Polizei nun hier in Bulgarien drauf ist, wissen wir noch nicht, aber unsere erste Begegnung muss ja nicht gleich ein Gesetzesbruch sein. Außerdem ist uns unwohl zu Mute, da ja eventuell das Haus, neben welchem wir die Nacht verbrachten, heute weiter gebaut werden könnte und nun bald die ersten Dachdecker anmarschieren. Auf geht’s!

Unser Frühstück kaufen wir nur unweit unseres “Zeltplatzes“ in einem kleinen Laden und nehmen es auf einer Treppe hinterm Haus ein. Ein merkwürdiges Getränk wurde uns gereicht, als wir Kakao verlangten. Die Plasteflasche war nicht durchsichtig und so konnte man nicht hineinschauen. Von der Konsistent her war es leicht sämig, wie ein dünner Pudding und die Farbe erinnerte an nassen Sand. Die Ladenbesitzerin brachte uns dafür extra noch zwei Becher zum Frühstücksplatz. Konrad war so mutig, füllte seinen bis zum Rand und kostete die breiige Flüssigkeit vorsichtig, spuckte sie aber im selben Moment wieder aus. Sie soll nach Erde geschmeckt haben und keinesfalls wie Kakao.  Wenn man früher als Kind an der Ostsee war und am endlosen Strand im feinen Sand spielte,  baute man dann oft aus einem Wassersandgemisch prächtige Kleckerburgen. Und was man da dann durch seine Hände fließen ließ, sah genau so wie unser Getränk heute Morgen aus.  Seltsam. Und auf dem Etikett der Flasche sieht man auch die Disneyfiguren Tick, Trick und Track wie sie in Badeklamotten eine Sandburg bauen. Ein Krebs öffnet ihnen dabei eine dieser besagten Flaschen. Aber man kann doch Sand nicht essen oder trinken oder gar in Flaschen abgefüllt verkaufen. Das kann doch nicht wirklich eine bulgarische Spezialität sein. Andererseits, warum sonst sollte man dann gekühlten Sand in einem Lebensmittelgeschäft kaufen können, wenn er nicht doch irgendwie zu Ernährung beitragen würde? Es bleibt ein Rätsel, dessen Lösung wir hier nicht finden können. Wenn jemand mehr zum beschriebenen Gemisch weiß und sagen kann, was der Schriftzug auf dem Etikett “ Б О З А“ bedeutet, wäre ich für den Hinweis sehr dankbar. Bis dahin bleibt es für mich, wie im Kindergarten, Dreckmeierpampe.

Konrad muss nun vorsichtiger weiterfahren, wir stellen nämlich am heutigen morgen fest, dass eine zweite Speiche, unmittelbar neben der anderen kaputten, gebrochen ist.  Ersatzspeichen haben wir keine mit und Fahrradläden haben wir auch lange nicht mehr gesehen. Hoffentlich hält sich die Acht in Grenzen und die Felge bricht nicht irgendwann plötzlich in einem Schlagloch auseinander.

Wir fahren auf recht großen Straßen bis Pleven. Konrad hat ein wenig Angst vor der Polizei, weil Kraftstraßen eigentlich ja nicht für Radtouren gedacht sind, aber solange auch weiterhin Pferdeäpfel den Seitenstreifen säumen, kann es kein Verbrechen sein, welches geahndet wird. Außerdem bleibt uns nicht soviel anderes übrig: Seit dem wir die Donau verlassen haben, haben wir nun noch eine Bulgarien-Autokarte mit dem Maßstab 1:700.000 zur Verfügung. Ein Zentimeter auf der Karte sind also sieben Kilometer in unserer Realität. Kleine Nebenstraßen finden sich hier natürlich nicht mehr wieder.

Ein anderes Problem ist, dass unsere Karte in lateinischer Schrift ist: Also findet sich da die Stadt “Pleven“, auf Verkehrsschildern steht dafür dann aber auf kyrillisch “Плевен“. Für uns könnte ebenso gut “北京市“ oder ".از دل برود هر آنکه از دیده برفت" auf den Schildern stehen. Sie sagen uns nichts, sie verschweigen uns ihre wertvolle Botschaft und machen uns zu Analphabeten mit Abitur. Ich durfte damals kein russisch in der Schule lerne, weil meine Eltern es zehn Jahre umsonst gepaukt hatten und der Meinung waren, sie hätten es nie gebraucht.  Nun, hier und jetzt hätte ich es anwenden können und uns durch die Bulgarischen Lande gelotst. Ein Latinum hilft jedenfalls im Moment nicht viel weiter. Beide stehen wir mit großen Augen vor den Schildern. Wir versuchen uns schließlich die Bilder der Schrift zu merken oder sie eins zu eins in lateinische Schrift zu transferieren: Aus Ловеч, was eigentlich Lovech heißt, wird so kurzer Hand “Nobe4“ und unser Etappenziel heißt nun “T-porh“ (Троян) und nicht mehr Troyan.

In Pleven erleben wir eine kleine Militärparade mit. Wir haben Glück den auf den Tag genau vor 123 Jahren vereinigte sich Bulgarien mit Ostrumelien, quasi dem Teil der heute südlich des Balkangebirges liegt, wieder. Örtliche Politikgrößen feiern Ihre Vorgänger und halten Reden. Soldaten formieren sich um ein Denkmal, hissen die bulgarische Fahne und die Hymne wird gespielt. Anschließend marschieren sie im Gleichschritt mir ihren Kalaschnikow-Sturmgewehren von dem Platz des Geschehens weg, direkt an Konrad vorbei, der sich wie ein Honigkuchenpferd darüber freut. Als die Soldaten um die Ecke gelaufen sind und für die Öffentlichkeit auf dem Platz der Feierlichkeiten nicht mehr zu sehen sind, verlieren sie die militärische Spannung, setzten ihre Barett-Mützen ab, trinken Bier und sind ausgelassen fröhlich. Eine schöne Abwechslung war das, den ansonsten ist heute mehr so ein typischer Träum-Tag, soll heißen wir beide sind in unseren Gedanken ganz weit weg, tief in der Tagtraumwelt versunken und reden nicht viel. So eine kleine Show ist da ganz angenehm.

Wir haben Pleven fast schon verlassen, als wir plötzlich wieder uns vertraute Schrift lesen: “KAUFLAND“ steht in großen Lettern auf einem Wegweiser. Und nicht nur, dass wir lesen können was da steht, wir gehören sogar zu der Minderheit in Bulgarien die versteht, was es bedeutet: Ein Land in dem man alles kaufen kann, was das Herz begehrt. Für uns an einem heißen Tag wie heute vor allem wichtig sind Getränke. Gut, dass der Tag der Wiedervereinigung nicht wie in Deutschland ein Feiertag ist, an dem die Geschäfte geschlossen haben. Das Kaufland hat geöffnet. Drinnen ist wieder alles auf Kyrillisch, selbst Eingang- und Ausgangstür sind mit diesen verrückten Schriftzeichen markiert. Ich versuche nach dem Fehlgriff heute Morgen ein weiteres Mal Kakao zu kaufen, Konrad berät mich gewissenhaft, doch wieder ist es nur dieser ominöse Kleckerburgen-Flüssigsand. Ärgerlich. Bei Nudeln und Cola kann man hingegen nichts falsch machen und so schlagen wir da ordentlich zu.

Nachdem Einkauf, der eine angenehme Pause in der Hitze der Mittagssonne darstellte, wollen wir noch nicht zurück auf die Straße und lieber im Schatten sitzen bleiben. Wir genehmigen uns ein wenig Luxus und essen an einem Imbissstand in Front des Supermarktes zu Mittag. Und zwar nix geringeres als Original Thüringer Rostbratwurst. Auch hier stehen wir erst hilflos vor der Auswahltafel, wissen nicht was wir wählen sollen. Die Situation gleicht einer Lotterie mit ungewissem Ausgang. Vielleicht zieht man einen Gewinn, vielleicht eine Niete. Vielleicht auch ein Glas leckeren Kakao? Wir zögern, zu viel hängt an dieser Entscheidung. Die Verkäuferin liest uns alle Gerichte vor, die sie im Angebot hat. Wir verstehen nur Bahnhof. Warum sollte ich eine Sprache verstehen, sie aber nicht lesen können? Sie redet weiter und weiter. Bulgarisch könnte ich nie lernen, überleg ich mir, während sie so zu uns spricht, dann schon eher rumänisch, dass erscheint mir wie spanisch zu sein, was ich zwar auch nicht kann, aber es ist sicher nur ein kleines Latein-Upgrade. Sie redet immer noch. Plötzlich. Ein einziges Wort haben wir gleichzeitig aus der fremden Sprache verstanden, Konrads Augen strahlen: Thühüriinggerrrrrr. Meint sie “Thüringer“? “Da, Thühüriinggerrrrrr“. Ok, das will ich, das nehmen wir! Eine Thüringer ist laut EU-Verordnung eine geschützte geographische Herkunftsangabe und da auch Bulgarien in unserer europäischen Union beheimatet ist, haben wir in der Lotterie des Imbissstandes nun den Hauptgewinn gezogen. Wer hätte das gedacht? In Pleven kennt man das Kaufland und die Thüringer Rostbratwurst. Das ist doch was.

Weiter geht’s, die bulgarische Donaueben wird gen Süden immer bergiger. Nachdem wir Pleven verlassen haben, fahren wir eine vielspurige Straße einen ewiglanggezogen Berg hinauf. Es ist glühend heiß. Es ist der heißeste Tag und die heißeste Stunde unserer Tour. Alles um uns herum ist vertrocknet und verdorrt. Zwei Kilometer nur nach der Mittagspause, müssen wir wieder Trinken. Die Luft flimmert und die Kehlen sind ausgetrocknet. Konrad gibt mir, nach einem kräftigen Schluck, seine Trinkflasche um sich mit Sonnencreme einzuschmieren. Ich soll sie nur halten, lasse sie aber fallen, sie rollt davon und fließt aus.  Kostbare Cola versickert im Staub. Bis “Nobe4“ (Lovech) sind es noch 30 Kilometer. Sicher verdurstet man nicht auf dieser Strecke, aber wir haben dennoch tüchtigen Brand.

Ewig langgezogene Berge fahren wir still hinauf. Die Piste ist ab 35°C für LKWs gesperrt. Wir Glückspilze müssen die Straße daher nicht mit den stinkenden Brummis teilen. Das Thermometer zeigt 40°C im Schatten an. Direkt über dem dunklen Asphalt der schlechten Straße, in der knallenden und gnadenlosen Mittagsonne, bekommen wir beide jetzt einen Hitzeschaden und Kopfschmerzen. Kilometerlang geht es nur leicht bergan. Die Luft steht, nirgends ist ein Ort, eine Tankstelle oder Oase zusehen. Nur trockenes Gestrüpp und Straße. Der Höhenmeter muss spinnen, wir sind schon fast auf der Höhe von Trojan unserem Etappenziel. Es geht noch höher weiter. Der Schweiß läuft in die Augen und brennt. Immer öfter müssen für ein paar Sekunden Pause machen, weil es schwarz vor Augen wird. Die Lippen sind staubtrocken. Wir hätten bei der schweren Bratwurst viel mehr trinken und unseren Körper hydrieren müssen. Nun ist es zu Spät. Irgendwann endet der Anstieg und die Mühen von einer Stunde verpuffen in einer fünf Kilometer langen Abfahrt.  Ihr folgt wieder so ein zäher Berg. Dann wieder und wieder. Unter einer Brücke, im Schatten legen wir die Fahrräder zur Seite und setzen uns am Straßenrand hin. Wie geil so eine Brücke und ihr breiter Schatten sein kann. Hinter der Leitplanke sehen wir heruntergekommene Wohnsilos. Ewig lang und verfallen, aber dennoch bewohnt. Deren Wäsche hängt, als bunte Farbkleckse, an Schnüren von Fenster zu Fenster.  Wir verlassen die Schnellstraße an der nächsten Ausfahrt um zu einer Tankstelle oder etwas ähnlichem zukommen, wo wir Wasser kaufen können. Irgendwo müssen auch die Bewohner des grauen Klotzes ihre Getränke kaufen. Es geht nun steil hinab, das müssen wir alles dann wieder hoch. Eine Alternative haben wir aber nicht wirklich, wenn wir  nicht endgültig dehydrieren wollen.

Der Ort ist Nobe4 (Lovech), wir wären daran fast vorbeigefahren, hätten wir nicht unter der Brücke halt gemacht und die Situation kritisch analysiert. Dann wären es noch einmal  weitere 30 Kilometer gewesen. Keine Ahnung, ob wir das geschafft hätten. In Love4 finden wir nach kurzer Abfahrt einen klimatisierten Supermarkt. Aus 40°C, in der Sonne vielleicht 50°C werden angenehme 20°C. Wir kaufen Getränke in verhältnismäßig rauen Mengen - Zwei Liter trinkt jeder sofort - und sitzen noch eine Weile in einer Sitzecke im Supermarkt, direkt an der eiskalten Klimaanlage. Keiner will zurück in den Glutofen. Ob wir einen Knall bekommen, wenn unsere abgekühlten Körper zurück in die Hitze müssen? Die Frage Vertagen wir immer wieder um weitere zehn Minuten. Wir bleiben ewig sitzen. Doch wissend, dass es nur in Trojan einen Zeltplatz oder eine Unterkunft gibt. Und so ziehen wir, der Vernunft folgend, irgendwann dann doch schleppend weiter.

Doch das schlimmste hatten wir zu diesem Zeitpunkt unwissend schon geschafft. Frisch aufgetankt, ging es in moderater 2%-Steigung die 30 Kilometer bis zum Etappenziel. Die Landschaft wurde spannender, hohe Berge taten sich vor uns auf und wir fuhren in eins ihrer Täler hinein. Ein Gebirgsbach begleitet uns fröhlich und motivierend. Die Straße wird kurviger, kaum einmal stört uns ein Auto. Hin und wieder wirft ein hoher Gipfel für ein paar Kilometer Schatten auf uns. Ich fühle mich wie neugeboren und gehe in die Führungsarbeit. Wir haben wieder richtigen Zug auf der Kette und lassen kaum einen Tritt aus. Konrad moderiert das Geschehen über zig Kilometer hinweg in erstklassiger Tour de France Manier. Wie Profis schießen wir die Straße entlang. Trojan erklimmt sich viel leichter als erwartet.  

Wir fahren einmal den ganzen Ort entlang ohne einen Zeltplatz zu finden, ein Taxifahrer meint danach es gibt überhaupt keinen Zeltplatz hier. Gut dann eben Plan B: eine Unterkunft, die wird es hier doch geben. Oberste Prämisse ist es heute Abend eine Dusche zu haben. Sieben Tage, eine ganze Woche also, ohne richtiges Waschen ist nichts für verwöhnte Mitteleuropäer. Ja, einen Weg zu einem Hotel weißt uns der Taxifahrer gerne, wir suchen noch eine Weile, doch dann stehen wir vor dem “Trojan Plaza“. Ist das vielleicht dann doch ein, zwei oder gar drei Nummer zu hoch für uns? Vier Sterne verzieren die Schrift des Hotelnamens.  Wir lassen die Drahtesel erst einmal vor der Tür um niemanden einen Herzinfarkt zu bescheren. Hinter dieser gehen wir über Marmorboden zur Rezeption. Feine Ledersessel stehen in der Lobby. Wir stehen da, doch niemand nimmt uns ernst. Auf einem kleinen Aushang entdecken wir die hiesige Preisliste des Hotels. 85 Lei kostet also eine Nacht im Doppelzimmer, 40 € sind das. So teuer wie gedacht ist es eigentlich gar nicht. Und in Anbetracht der Tatsache, dass wir für die letzte Woche überhaupt kein Geld bei Übernachtungen gelassen haben, meinen wir uns diesen Luxus verdient zu haben. Wir bestätigen uns gegenseitig darin immer wieder, bis wir es beide mit voller Überzeugung über die Lippen bekommen. In Vukovar hatten wir damals übrigens 60€ gezahlt. Die Rezeptionsdame begrüßt uns mit professioneller Freundlichkeit. Wir sind Deutsche, internationale Gäste? Schnell wird jemand organisiert der Englisch kann. Die VISA-Kreditkarte öffnet uns alle Türen und wir checken ein. Die verdreckten Fahrräder dürfen wir gerne im Hochglanzfoyer abstellen und anschließen. Gar kein Problem.

Der Page will uns nicht so Recht helfen und verachtet uns mit Arroganz. Wir finden auch so unser edlen Zimmer und duschen erst einmal ewig. Deutsches Fernsehen auf einem großen Plasmabildschirm versüßt dabei das warten bis der andere fertig ist mit seiner Körperpflege. Wir ruhen uns lange aus.

Gegen Abend gehen wir noch durch Trojan spazieren, wir suchen und finden ein Internetcafé um E-Mails zu checken und unsere von Serbien aus georderten Zugticket zur Vollendigung unserer Heimreise auszudrucken. Auf dem Rückweg entdecken wir auf einer Litfasssäule, die eigentlich für Todesanzeigen gedacht ist, ein Poster, welches auf die “International Cycling Tour of Bulgaria“ hinweist. Wann? Wo? Ab 7. September, also morgen. Und Start ist in Trojan, also hier. Da bin ich ja mal gespannt, ob wir irgendetwas davon sehen. Konrad geht zurück ins Hotel, ich gehe allein noch ein wenig weiter spazieren und erkunde das Städtchen.

Als ich zum Hotel zurückkommen traue ich meinen Augen kaum. Ein Multivan mit Dresdner Kennzeichen steht vor der Eingangstür uns lädt aus. Rennräder um genau zu sein.  Welch Zufall: Das Radteam Dresdner Sportclub – Collos ist also auch in unserem Hotel abgestiegen. Ich schaue mir die Sache nähe an und gehe zu dem Auto. Der Typ, der gerade die hochwertigen Rennräder ausräumt und aufbaut, schaut mich an, sieht wohl mein TU Dresden T-Shirt und fragt mich welches mein Bike sei und wie er es einstellen soll… Er hält mich für einen Radprofi? Er fragt mich welches Rennrad mir gehört? Was für ein Kompliment. Ja meine Waden könnten aus Stahl sein. Es wäre nun ein leichtes gewesen, mit einer Dura-Ace-Carbon-High-End-Maschine davon zu radeln. Allein wie erklär ich Konrad meinen Wechsel auf das hochpreisige Material und die Tatsache, dass er nun all unser Gepäck allein den Trojan-Pass, welcher morgen auf uns wartet, hinauf schleppen muss? Ich kläre den Mechaniker schnell auf und er daraufhin ist ein wenig sauer, weil ihm dieser Fauxpas passiert ist. Ich bin stolz und renne sofort hoch in unsere Suite und berichte Konrad von diesem tollen Ereignis. Auch er begutachtet jetzt das Treiben auf dem Hotelhof mit großem Interesse. Weitere Rennradteams checken ein.

Während wir fernsehen, studiere ich unser Karten und kalkuliere die weitere Tour durch. Dabei fällt mir auf, dass wir trotz des einen verlorenen Tages (Danke nochmal an den Bikeline-Verlag) sehr gut in der Zeit liegen. Noch zehn Tage haben wir Zeit bis das gebuchtes Flugzeug uns von Istanbul nach Düsseldorf und nach Deutschland zurückbringt. Bis Istanbul sind es noch höchstens 800 Kilometer. Wir werden also in sechs oder sieben Tagen die Bosporus-Metropole erreichen. Die bisherigen 2600 Kilometer haben wir in 22 Tagen, sagen wir in 20 Tagen und zwei Halbtages-Etappen bewältigt. Wir sind gewissermaßen schon auf der Zielgeraden. Ich rechne noch dreimal nach und schlage Konrad dann einen Ruhetag hier in Trojan vor, den ersten freien Tag unserer Tour. Zeitlich können wir es uns locker leisten und man bedenke die weichen Betten und die angenehme Dusche! Konrad rechnet ebenfalls die Tour nochmal nach. Ob wir in Istanbul sitzen oder in Trojan ist egal. Und so bleiben wir nach kurzer Pro- und Contradiskussion auch morgen Nacht im “Trojan Plaza“, da wird der Page aber Augen machen.

Schnell kläre ich alles mit der Rezeption ab. Auch lasse ich unsere verkeimten, dreckigen und ekligen Klamotten Waschen. Ich will nicht wissen, was die Wäscherei zu dazu gesagt hat. Im Kiosk um die Ecke kaufe ich noch weiße Schokolade für Konrad und beende den Tag.

Tief zufrieden, gewaschen und wohlduftend gehen wir in die gemütlichen und weichen Betten. Wie angenehm ist ein reines Laken auf der sauberen Haut. Wie beruhigend ist die Gewissheit, dass wir morgen ewig ausschlafen können. Wie süß kann so ein Leben sein. Und das für nur 20€ pro Person. Dazu erwartet uns morgen früh noch ein angerichtetes Frühstück und saubere Unterwäsche.

 

Nur am Rande: 北京市ist Chinas Hauptstadt Peking und .از دل برود هر آنکه از دیده برفت ist Farsi oder persisch, man spricht es unter anderem im Iran und in Afghanistan und es heißt soviel wie: "Aus den Augen, aus dem Sinn." Also wer mal ein wenig Aufmerksamkeit erregen möchte, sollte sich diese Zeile merken und kann sie bei Gelegenheit in geselliger Runde rezitieren oder sie auf die Klotür in der Uni schreiben.

 

Pause

Sonntag 07.09.2008    

**** Ruhetag in Troyan ****

0 km

0:00 h

↗ 0 hm

↘0 hm

av.V 0km/h

av. P=0 W

Sonntags- und Sommerferienwetter

139 BGN (Lew)

 

Werfen wir doch wiedermal  einen Blick in Konrads Aufzeichnungen:

“7.9.2008    24.Tag     Trojan – Trojan J

Eine Zeile nur. Schlicht bringt sie auf den Punkt, dass wir heute in Trojan waren. Ich möchte dennoch ein wenig weiter ausholen.

Der Tag begann, nach der erholsamen Nacht, schon ausgeruht und locker. Anschließend schlenderten wir zum Frühstücksbereich. Das Hotel hat sich hier nicht nur auf nüchternen Pragmatismus beschränkt, sondern jede Tischgruppe auf eine besondere Weise in Szene gesetzt. Wir sitzen auf einem alten Cowboy-Planwagen. Direkt neben dem großen Weinfass, wo ein Ehepaar mit kleinen Kindern Platz gefunden hat. Das Buffet ist reich gedeckt: Hauptsächlich ernährt sich Konrad von einer Art Eierkuchen, die an den böhmischen Palatschinken erinnern und mit Marmelade gefüllt sind. Die Küche kann gar nicht so schnell nach produzieren, wie sie wieder auf unseren Tellern verschwinden. An den Mengen die wir verputzen, sieht man wie ausgezerrt wir sind und was diese Radtour uns abverlangt. Unter normalen Umständen würde ich schon nach der Hälfte keinen Happen mehr runter bekommen, so aber werden wir Stammgast zum Nachholen am Buffet.

Eigentlich würden wir jetzt wieder aufbrachen, so war es immer in den letzten drei Wochen, heute aber geht es wieder hoch ins Zimmer und ins Bett. Konrads Tageswerk besteht darin das Reisetagebuch, dessen Grundlage dieser vorliegende Reisebericht nun ist, nachzutragen. Allzu oft fehlt am Abend, nach einer langen Etappe, die Kraft oder einfach auch das Tageslicht dafür, unser “Büchlein“ auf dem aktuellen Stand zu halten. Ich erkunde ein wenig das Hotel. Ein Fitnessstudio mit Hometrainern entdecke ich. Mal eine Runde darauf radeln? Ha, ich bin froh, dass ich überhaupt noch aufrecht auf zwei Beinen gehen kann und nicht ständig versuche in imaginäre Pedale zu treten.

Die Rennradteams sind gerade vor dem Hotel damit beschäftigt ihre Vorbereitungen für das anstehende Rennen zu treffen, ich erfahre, dass heute Nachmittag der Prolog in Trojan stattfindet. Gespannt kann ich aus nächster Nähe das Treiben beobachten. Die Profis eines bulgarischen Teams sind sichtlich nervös, weil eine bildschöne, spärlich bekleidete, Blondine ihre Rennräder schrubbt. Ansonsten ist es ein friedlicher Sonntag und wunderschöner Sommertag obendrein.

Am Nachmittag gehe ich an die Rennstrecke die für den Prolog abgesperrt ist, Konrad ruht sich indes im Zimmer weiter aus. Heute geht es bei der Bulgarienrundfahrt nur darum die Wertungstrikots ein erstes Mal zu vergeben und die Mannschaften zu präsentieren. Ich suche natürlich das Dresdner Team, was hier ja auch irgendwo stecken muss. Überall kann man hingehen, nichts ist versperrt oder nicht zugänglich für mich. Für Fans des Sportes ist diese Rundfahrt angenehmer als die Tour de France, wo man an die Rennradfahrer kaum ran kommt. Ein Streckensprecher erklärt das Geschehen auf Bulgarisch, Englisch und wegen der deutschen Teams auch auf Deutsch.  In den sächsischen Landesfarben Grün und Weiß entdecke ich schließlich das DSC-Team und spreche die verdutzen Athleten an. Ja, ok, ein wenig doof kam ich mir dabei am Anfang schon vor, aber wir kommen angenehm ins Gespräch. Einige Fahrer sind abgeklärt, andere richtig aufgeregt vor dem Start. Robert Bengsch, amtierender deutscher Meister im Madison und in der Mannschaftsverfolgung, also eigentlich Bahnradfahrer, dreht den Spieß zu meiner Freude um und interessiert sich für unsere Radtour von Dresden bis hierher. Ich erzähle ein wenig davon und er erklärt mir im Gegenzug den Ablauf bei seinem anstehenden Profirennen. Dann muss er aber starten und ich quatsche noch kurz mit dem Teamleiter. Wo kommt der her? Bekanntlich ist die Welt ja ein Dorf und so ist er viele Jahre Sportgruppenleiter an unserer TU Dresden gewesen. Zurück an der  Start- und Ziellinie verfolge ich gespannt den Rennverlauf. Das DSC-Team konnte an diesem ersten Tag der Bulgarienrundfahrt nicht viel reißen, Robert hatte schnell einen Platten und musste langsam ins Ziel rollen. Zum Glück ging es heute noch um keine Zeitabstände.

Nachdem das Gelbe Trikot für den besten der Gesamtwertung, das gepunktete Trikot für den besten der Bergwertung und das Grüne Trikot für den besten Sprinter bei der Siegerehrung vergeben ist, spaziere ich noch ein wenig durch Trojan. Der Ort liegt an den Nordhängen des zentralen Balkangebirges, im so genannten Vorbalkan, in anderen Ländern würde das Städtchen überflutet von Bergtouristen sein. Trojan ist relativ neu, weil es vor 130 Jahren in einem Krieg zwischen Russen und Türken komplett niedergebrannt wurde. Der kleine Kaskaden-Fluss Beli Ossam trennt das Städtchen in der Mitte. Viele, auch schöne und kleine, Brücken verbinden die beiden Teile. Insgesamt spürt man einen Ostblock-Charme in den Gassen wieder, aber Neues entsteht an allen Ecken. Straßencafés und moderne Läden säumen die kleine Hauptstraße. Ich denke Trojan wird bald in aller Munde und ein bekannter Touristenort sein. Bisher kennt man vor allem das nahegelegene Kloster und den dort produzierten Pflaumenschnaps.

Der Tag vergeht auch ohne Radfahren, Lewis Hamilton gewinnt auf RTL den Große Preis von Belgien in Spa-Francorchamps, wird später aber zu Felipe Massas Freude, zwei Plätze nach hinten gestuft, weil er einmal abgekürzt hat. Naja Radsport ist ja wohl tausendmal spannender als die Formel 1. Warum Motorsport überhaupt als Sport bezeichnet wird, ist mir schleierhaft. Gewinnt doch oftmals nicht der beste Fahrer, sondern das beste Auto die Rennen. Eigentlich ist es ein Technik-Wettstreit der Ingenieure.

Als ich zum Hotel zurückkomme, trifft auch das DSC-Team gerade ein. Wieder ein Zufall: Nicht nur das sich Dresdner mitten in Bulgarien treffen, nein Robert und einer seiner Teamkollegen wohnen auch genau im Zimmer neben an.  Am Abend, als wir gerade “The Fast and the Furious“ im Fernsehen schauen und nebenbei kochen, kommt er nochmal rüber zu uns. Er erzählt ein wenig vom dem Profialltag, er ist sogar schon im ProTour-Team T-Mobile gefahren, den wir heute einmal hautnah miterleben konnten. Dabei ist er angenehm bescheiden und distanzlos. Seine Teamkollegen sind zwei Tage mit dem Bus hier runter gefahren, er hat sich den Stress gespart und ist geflogen. Er kalkuliert es genau durch: die Flugkosten versucht er durch einen Etappensieg wieder rein zubekommen, den er ausgeruhter eher erreichen kann. Während wir nach Süden weiterfahren, zieht der Bulgarien-Rundfahrt-Tross erstmal noch nach Norden durch die Donautiefebene, bevor sie dann am Schwarzen Meer auch gen Süden kommen, zwischendurch überwinden sie aber auch noch den ein oder andern Balkan-Pass. Robert hat auch viele Fragen an uns, weil er sich schlicht nicht vorstellen kann, diese lange Strecke mit dem eigenen Gepäck zu schaffen. Unsere Räder sind ihm, und jedem anderen sicher auch, im feinen Hotelfoyer aufgefallen. Der Ritzelblock, ja der gesamte Antrieb ist vollkommen verdreckt und Konrads Hinterrad verlassen die Speichen. Für einen reinen Rennradfahrer sind diese Bedingungen unvorstellbar. Selber liebt er aber wie wir den Osten Europas und könnte sich vorstellen irgendwann einmal am Ende seiner Karriere auch so ein Tour zu machen. Robert, du bist herzlich eingeladen an einer weiteren Tour teilzunehmen, aber pass auf: Die Spritzigkeit in den Beinen verliert man dabei ziemlich schnell, dafür bekommt man die Kraft stundenlang gleichmäßig wie eine Dampflok in die Pedale zu stampfen.

Wir verabschieden uns und wünschen uns gegenseitig viel Erfolg bei unseren weiteren Vorhaben. Auf der fünften Etappe kann das DSC-Team einen Tageserfolg feiern, als sich Roberts Teamkollege Henning Bommel im Massensprint durchsetzen kann. Für Robert springen zwei 4. Plätze, ein 8. und 10. Platz in Bulgarien heraus.  Wir für unseren Teil werden eine Woche später erfolgreich in Istanbul einfahren.

Noch vor dem schlafen gehen, packen wir unsere Taschen um morgen beizeiten wieder auf dem Rad zu sitzen und den Trojan-Pass zu erstürmen. Es waren spannende und interessante Einblicke heute für uns. Wenn man es genau nimmt, hätten wir die Bulgarien-Rundfahrt und auch die Militärparade Tags zu vor verpasst, wenn wir in Rumänien auf Anhieb die richtige Fähre gefunden hätten. Alles hat seinen Sinn. Alles ist für irgendetwas gut. Man muss nur das Beste aus jedem Tag machen.

Das säubern der Unterwäsche und der verkrusteten T-Shirts hat stolze 15€ gekostet. Aber vermutlich muss man ein hohes Schmerzensgeld für die Waschfrau mit einrechnen, was nur fair wäre und dann ist der Preis auch verständlich.  Insgesamt waren die beiden Nächte im Hotel preislich vollkommen angemessen, wenn auch eine Spur Dekadenz unsererseits nicht zu verleugnen ist.

 

#24

Montag, 08.09.2008

Troyan – Troyanpass - Karlovo - Plovdiv

128,8 km

6:15 h

av. V = 20,5 km/h

↗ 1267 hm

↘1455 hm

av. P = 80 W

18°C - 35°C, sonnig

33 BGN (Lew)

 

Der Wecker klingelt frühzeitig. Der Plan ist es, lang und gut zu frühstücken und dann noch vor der Mittagshitze den Trojanpass, südlich von Trojan selbst, zu überwinden.  Weiter geht unsere Planung erst einmal nicht, denn zwischen der Passspitze und unserem derzeitigen Standpunkt liegen nicht nur 23 Kilometer sondern auch 1125 Meter Höhenunterschied. Mit solchen Anstiegen auf beladenen Tourenrädern haben wir schlicht noch keinerlei Erfahrungen gemacht, also wollen wir es einfach auf uns zu kommen lassen.

Doch auch wenn der Planungshorizont sehr überschaubar scheint, ist man vor Überraschungen nicht gefeit: So muss unser ausgedehntes Frühstücksgelage entfallen, da das Hotel gar keines mehr anbietet. Wo gestern noch ein großes und reich gedecktes Buffet voller Delikatessen, Gaumenfreuden und Köstlichkeiten war, ist heute gähnende Leere. Wir täuschen uns nicht in Raum oder Zeit, man bittet uns an einen kleinen Tisch und händigt uns eine einseitige plastinierte Speisekarte aus. Wir können zwischen fünf kleinen Frühstücksvarianten wählen: Zwei Scheiben Brot, mit einem Stück Butter, einem Klecks Marmelade und einer Scheibe Wurst oder Zwei Scheiben Brot mit einem Stück Butter und zwei Scheiben Wurst oder statt der Wurst Käse… und so weiter. Die Getränkeauswahl beschränkt sich auf ein Glas Wasser ohne Sprudel. Ernüchternd. Sind wir hier jetzt auf Diät? Geht es als nächstes ins Wasserbecken zur Aqua-Gymnastik mit anschließender Lymphdrainage und einer Feldenkrais-Körperbewusstseins-Therapie? Oder sieht es etwa so aus, dass wir in den nächsten zwei Stunden nichts anderes machen als stetig bergauf mit dem Rad zufahren und dabei unentwegt in die Pedale zudrücken? Sicher bin ich mir nicht mehr. Tja. Man darf einfach nicht zu viel erwarten, zu groß kann die Enttäuschung sein, auch wenn es nur um ein Frühstück geht. Vielleicht hatten wir gestern auch einfach nur Glück gehabt, weil Sonntag war und man da das Frühstücksangebot ungefähr vertausendfacht hat und nun ist wieder Montag und es kehrt der Alltag nach Trojan und in das Hotel Trojan Plaza zurück, was sich schlussendlich auch auf uns auswirkt. Schnell verputzen wir diese Kindergartenportion, den mehr war es nicht, und verkrümeln uns.

Wir beladen unsere Räder. Schlecht sehen sie aus. Die Ketten sind fast ölfrei und vollkommen verstaubt. An Konrads Hinterrad fehlen zwei Speichen und die ersten Achten in den Felgen bahnen sich an. Nicht nur wir sind seit drei Wochen unterwegs, auch unsere Fahrräder spüren die Belastung. Am Ortsausgang halten wir an einem kleinen Laden und Frühstücken auf einer Bank am Flüsschen. Das Hors d'oeuvre aus dem Hotel ist längst schon verdaut. Eigentlich ist es an der frischen Luft auch viel schöner. Man sitzt so da auf seiner Bank, schaut dem Alltagstrott der Menschen zu, die Sonne blinzelt leicht durch die Blätter der Bäume, man hört das Wasser plätschern und spürt die Energie des beginnenden Tages. Immer wieder wandert der Blick zu den Gipfeln des Balkangebirges. Gut 2200 Meter sind die Berge Levski ,benannt nach dem Revolutionär und Aktivisten der Bulgarischen Nationalen Wiedergeburt Wassil Levski, und Vezen hoch und genau zwischen ihnen werden wir den höchsten Punkt unserer Radtour nach Istanbul erreichen. Bevor es endgültig losgeht stocken wir noch unsere Trinkvorräte auf.

Schon im Ort beginnt die kontinuierliche Steigung auf dem guten und nahezu Autofreien Asphaltband. Schnell lassen wir auch die letzten Häuser und Hütten hinter uns und sind allein unterwegs. Jeder fährt sein eigenes Tempo, monoton rattert die Kette, um uns ist nur Wald. Bei einem ihrer vielen Expansionsversuchen nannten die Türken dieses Gebirge nicht umsonst Bergwald, was auf Türkisch Balkan bedeutet und schließlich Namensgeber von ganz Südosteuropa wurde. Weiter geht es hinauf durch den Bergwald. An Quellen, die hin und wieder aus dem Felsen entspringen, machen wir kurze Pausen, warten aufeinander und erfrischen uns an dem kühlen und klaren Wasser. Vielleicht liegt es an der Hitze und der Belastung, aber noch nie hat Wasser so gut geschmeckt. Stetig wächst die Zahl auf dem Höhenmesser, wir wissen dass bei 1525 Metern Schluss sein wird, doch bis dahin ist es noch ein weiter weg. Ein LKW knattert von hinten heran, der Fahrer hält direkt vor Konrad und spricht ihn auf Bulgarisch an. Als er merkt, dass wir Deutsche sind unterbreitet er das unmoralische Angebot: „19 Kilometer! Hinten rauf!“. Kurz diskutieren wir es aus, aber meine Meinung ist für mich unumstößlich: Nicht einen Meter werde ich auf dem Weg in die Türkei motorisierte Hilfe in Anspruch nehmen. Auch und schon gar nicht hier am Trojan-Pass. Wäre das hier die Tour de France würden wir gerade auf einen Berg der ersten Kategorie “stürmen“. Das hat trotz aller Anstrengungen schon etwas Faszinierendes an sich. Und auch wenn es für Konrad ein deutlich größeres Opfer ist, lässt es ebenso sein Stolz nicht zu, hier die Abkürzung zu wählen. Der LKW-Fahrer versteht die Welt nicht mehr, er verspricht uns oben auf der Spitze wieder abzusetzen, damit wir die ganze Abfahrt genießen können. Doch darum geht es ja nicht. Es geht um die Radtour von Dresden nach Istanbul. Es geht darum mit dem Fahrrad und nur mit dem Fahrrad in Dresden loszufahren und in Istanbul eines, nicht allzu fernen, Tages anzukommen und dafür muss man nun mal auf der von uns gewählten Strecke hier jetzt berghoch fahren. Er gibt auf, wir danken ihm dennoch für seine Hilfe.

Nach und nach werden die Bäume kleiner, bald wachsen hier nicht mal mehr Büsche. Wir haben eine grandiose Aussicht, man hat das Gefühl ganz Bulgarien überblicken zu können. Einst, es ist schon ein paar Tage her, wanderten genau hier auf dieser Straße römische Legionäre vom Ägäischen Meer zur Donau um am Limes das Römische Reich zu verteidigen. Wir radeln nämlich auf einem Nachfolger der Römerstraße Via Traiana, welche die Städte Hadrianopolis, Philippopolis und Bononia (Edirne, Plovdiv, Widin) verband und die bis zum Bosporus reichte.

Kurz vor dem Gipfel entspringt noch einmal eine Quelle an welcher ein Brummifahrer seine Kühlflüssigkeit nachfüllt und wir uns noch einmal eine Flasche mit Balkanwasser abfüllen. Dann sind wir endlich auf dem Trojanski Prohod ankommen, dem Dach unserer Tour, auf 1525 Metern Höhe, über einen Kilometer höher als heute morgen. Es herrschen, trotz der Mittagsstunde, angenehme Temperaturen hier oben. Wir machen eine längere Pause und genießen noch einmal die großartige Aussicht, jetzt in beide Richtungen: Im Norden liegt die Nordbulgarische Platte, welche bis zur Donau reicht und die wir in den letzten zwei Tage durchquert hatten. Im Süden liegt die Oberthrakische Tiefebene, welche spiegelglatt bis zum Beginn unseres hier nun steil abfallenden Balkangebirges verläuft. Die Gipfel um uns herum sind grün und rund gelutscht, es gibt keine schroffen Felsen. Hier oben – so sagt uns ein Nationalparkschild – gibt es Wölfe, Steinadler, Gämse und auch Bären, sowie elf Pflanzen die nur hier und nirgendwo anders auf der Welt wachsen. Tiere sehen wir keine und da wo wir sitzen gibt es auch nur stinknormales Gras, aber und das fällt selbst uns auf: Keine nervenden Insekten scheinen hier zu wohnen.

Auf einem nahen Berg ist ein riesiges Monument, wir hatten von weiter unten für eine Seilbahnstation gehalten, in der modernen Form eines Triumphbogens, welches dem Befreiungskampf der Bulgaren gewidmet ist.  Wir knipsen noch ein paar Gipfelfotos, ein ausgesetzter LKW-Fahrer gibt sich dabei richtig Mühe und sucht immer wieder schönere und bessere Motive für unser Bild. Ich nehme noch einen kleinen Stein als Erinnerung mit und dann stürzen wir uns in die anstehende Abfahrt. Der Mann – keine Ahnung warum er hier auf einen LKW wartet – singt zum Abschied noch “Bicycle“ von Queen. Auf geht’s oder besser: Ab geht‘s.

Die Abfahrt ist ungefähr 25 Kilometer lang und es ist ein riesengroßer Spaß so schnell vorwärts zukommen, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren ohne dafür eigene Kraft aufwänden zu müssen. Es geht auf der Südseite des Passes noch weiter bergab, als es auf der Nordseite hinauf ging. Es ist die gerechte Entlohnung für die Strapazen des langen Morgens. In unzähligen und spitzen Serpentinen schmiegt sich die Straße eng am Berg hinab ins Rosental, welches bekannt für seinen – welch‘ Überraschung – Rosenanbau ist und wo auch die rote Rebsorte des  Rosentaler Kadarkas auf nährstoffreichem Boden angebaut wird. Doch jetzt im Spätsommer wächst im Tal nicht mehr viel, von hier oben sieht alles braun und verdorrt aus. Der Ort Hristo Danovo, am Fuße des Berges liegend, erinnert von hier oben aus an eine Modelleisenbahnlandschaft mit seinen winzigen Häusern und Autos, Straßen und Feldern. Viel zu schnell endet das Vergnügen in Karnare, wir sind nach dem Geschwindigkeitsrausch wieder auf dem Boden der Realität und des Tales angekommen. Es ist heiß und stickig. Das Balkangebirge thront jetzt im Rücken hoch über uns.

Wir beschließen bei einem Eis uns an die neuen Rahmenbedingungen gewöhnen zu wollen, dabei werden wir jedoch von kleinen Kindern gestört. Die Giftzwerge beschimpfen uns und werfen immer wieder mit Steinen nach uns. Anschließend freuen sie sich lautstark, wenn sie das blecherne Buswartehäuschen, in welchem wir sitzen und unser Eis schlecken, mit einem ihrer geschleuderten Brocken treffen und damit dann einen Höllenlärm erzeugen. So fällt der Abschied denn auch nicht schwer. Bis Karlovo folgen wir einer stark befahrenen Straße. Von hier aus wollten wir eigentlich über Kasanlak gen Osten nach Stara Sagora und weiter zur griechisch-bulgarischen Grenze in Swilengrad fahren. Doch jetzt hier vor Ort reizt uns die Transitstraße, die zudem recht hügelig daher kommt, wenig. Wir planen kurzerhand um und wollen erst nach Süden und in Plovdiv dann ostwärts weiterfahren. In Plovdiv hoffen wir auch auf einen Zeltplatz und erwählen die Stadt daher als unser heutiges Etappentagesziel. Verfahren kann man sich nicht: 50 Kilometer geht es gerade aus und dann ist man schon da.

Die Strecke ist gähnend langweilig und teilweise böse befahren. Ganz am Rand fahrend, hoffen wir nicht überrollt zu werden. Nebeneinader herfahren und miteinander reden, Geschichten erspinnen und Gedanken austauschen, geht leider nicht. Wir überfahren auf unserem trostlosen Weg einen kleinen Fluss, sein klares Wasser lockt uns von der Straße herab und so legen wir am Strjama erneut eine weniger physisch, als viel mehr psychische Pause ein. Wohltuend umfließt das kühle und erfrischende Wasser unsere Füße. Der Fluss ist etwa zehn Meter breit, aber an keiner Stelle tiefer als 30 Zentimeter. Ich baue wie in Kindertagen kleine Staudämme und Konrad kühlt unsere Getränke im Wasser. Langweilig wird uns auch nicht: Erst kommt ein Cowboy auf einem Pferd und mit seiner Rinderherde angeritten. Wenig später hören wir Walz- und Stampfgeräusche aus Büschen hinter unserem Rücken. Eine Herde Wasserbüffel zieht es ebenfalls an unseren entspannenden Fluss.  Sie nehmen ein Bad in einem Wasserloch direkt neben unseren abgelegten Fahrrädern. Da die Tiere recht groß sind und auch noch Hörner haben wollen wir sie dabei nicht stören. Ein Büffel öffnet mit seinem Maul meine Lenkertasche und leert sie. Warum? Warum macht er das? Und warum holt er gerade unsere Reisepässe heraus? Die braucht er als Tier doch gar nicht. Und was will er den im Ausland? Hier am Wasserloch ist es doch wunderschön. Das fällt ihm dann wohl auch ein und so lässt er alles fallen und geht zu den anderen Wasserbüffeln baden.  Glücklich sind wir auch, dass er sich mit seinem massigen Körper nicht auf unsere zarten Alu-Räder gestellt hat. Dem Cowboy sind die Tiere auch nicht geheuer und so zieht er mit seinen Kühen weiter, vorher plauscht er noch mit einem Mann am anderen Flussufer, der mit seinem Pferdefuhrwerk zum tränken der Pferde vorgefahren ist. Man kann sich gar nicht vorstellen, was an so einem Fluss alles passiert. Nachdem alle Tierrassen weitergezogen sind, raffen auch wir uns wieder auf und radeln weiter. Immer noch bin ich froh darüber, dass alle wichtigen Reisedokumente noch vorhanden sind. Ich hüte die Lenkertasche eigentlich immer wie meinen Augapfel und dennoch kann man sich nie sicher sein, dass nicht irgendetwas Ungeplantes damit passiert. Heute war es der fette Wasserbüffel und in Serbien hatte ich alles Wichtige zum Schutz vor Langfingern ausgepackt und dann auf einer Bank liegen lassen.

Plovdiv ist die größte Stadt seit Belgrad und über einer Woche. Unsere Straße wird riesig breit und überall wird gebaut. Die Ampeln hier haben eine bemerkenswerte Besonderheit: Ein Countdown zeigt an wie lange noch Rot und Grün ist. Was bei Grünphasen zur Folge hat, dass kurz vor Ablauf der Zeit alle Verkehrsteilnehmer, egal ob PKW, LKW oder Bus, Vollgas geben um es gerade so noch über die Kreuzung zu schaffen und bei Rotphasen warten die Autos nicht mehr bis Grün wird, sondern fahren schon eher los, weil sie ja sehen, dass das Warten gleich vorbei ist. Da das aber auch die querenden Autos so machen, ist das ganze Vorgehen recht chaotisch und gefährlich.

Dass wir den Zeltplatz von Plovdiv tatsächlich finden, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Zu oft haben wir umsonst gesucht und zu groß ist die Stadt. Zwar liegt das Zeltplatzsymbol auf der Landkarte im Westen der Stadt, aber wie genau der Kartenzeichner hier an dieser Stelle gearbeitet hat, weiß doch kein Mensch. Doch Konrad ist optimistisch und  so finden wir ziemlich schnell den Campingplatz direkt an der Straße.

Man weißt uns einen Platz auf dem ansonsten leeren Platz zu und wir schlagen unser Lager auf. Duschen können wir in kleinen Bungalows, die voller Kakerlaken sind. Davon abgesehen ist die Anlage sehr gepflegt und mit viel Liebe gestaltet. Neben unserem Zelt ist eine Brunnenattrappe und ein Holztisch mir Bänken. Hier beenden wir nun bei Nudeln mit Ketschup den Tag der Erstürmung des Trojan-Passes.

P.S.: Vor 25 Jahren fand hier in Plovdiv die Hochzeitsreise meiner Eltern durch Bulgarien ihren Anfang. Jetzt bin ich da.

 

#25

Dienstag, 09.09.2008

Plovdiv - Dimitrovgrad - Haskovo

110,2 km

5:23 h

av. V = 20,4 km/h

↗ 399 hm

↘ 371 hm

av. P = 100 W

19°C - 35°C, sonnig

55 BGN (Lew)

 

Während ich die ganze Nacht wie ein Stein geschlafen habe – ein Tipp für alle mit Schlafstörungen: einfach mal nach Istanbul radeln – wurde Konrad in dieser Nacht krank. Am Morgen plagen ihn starke Bauchschmerzen und ein schlimmer Durchfall. Er verbringt den Tagesbeginn erst einmal damit, einige Zeit auf dem Klo abzusitzen, während ich das Zelt abbaue und alles einpacke. Es muss ja weiter gehen.

Zum ersten Mal auf unserer Radtour ist einer krank geworden. Eigentlich ist es schon ein kleines Wunder, dass es so lange gedauert hat, bis ein Immunsystem mit diesen Anforderungen nicht mehr klarkommt: Nicht nur das tägliche Radfahren ist eine körperliche Belastung, auch die hygienischen Standards sind unterwegs nicht immer so, wie man es von Zuhause und dem Alltag gewöhnt ist. Überraschend war für uns aber das Timing mit dem der Infekt Konrad heimsuchte, immerhin hatten wir uns ja gerade in Trojan den ersten und einzigen Ruhetag der Tour gegönnt. Wir konnten da genug und in Ruhe essen, Energie tanken, duschen solange und so viel wir wollten, hatten leichte Spaziergänge durch die Stadt und ansonsten war einfach nur Entspannung angesagt. Doch jetzt war Konrad eben krank und guter Rat teuer.

Wir beschlossen erst einmal in Plovdiv Frühstück zu suchen und dann weiter zu sehen. Die Stadt hat uns leider keinen ihrer antiken Schätze gezeigt. Ihre makedonische Vergangenheit als Philippopolis blieb uns verborgen, auch sahen wir nichts von einer ehemaligen Römer- oder Byzantinerbesiedlung. Auch wenn wir gestern Abend auf dem Weg zum Zeltplatz und jetzt auch wieder zurück in die Innenstadt zweimal quer durch Plovdiv gefahren sind, war da nicht mehr als eine unauffällige Ostblockstadt. Wir hätten die Altstadt, das antike Theater, das römische Stadion und orthodxe Kirchen aufsuchen können, doch heute Morgen wollten wir Konrads Kräfte schonen und dachten daher nicht eine Sekunde an Sightseeing.

Das Frühstück nehmen wir auf den Treppenstufen vor einem kleinen Supermarkt ein. In einer Hausecke daneben schlafen noch drei kleine Kätzchen eng an einander gekuschelt, als gäbe es die morgendliche Rush-Hour und Hektik nicht. Als sie aufwachen klettern sie auf einen Baum oder spielen im Gras mit Kienäpfeln. Die fast schon philosophische Frage ob Hund oder Katze der ideale Freund des Menschen ist, beantwortet sich einmal mehr von alleine: Denn während uns fast jeder Hund bisher angegriffen hat, sind diese Katzen friedliche, anschmiegsame und leise Zeitgenossen.

Wir verlassen Plovdiv auf kleinen Straßen gen Osten, auch wenn es eine direkte Transitstraße von Sofia über Plovdiv nach Edirne an der bulgarisch-türkischen Grenze und weiter bis Istanbul gibt. Es ist einfach viel angenehmer, wenn man bei Radfahren seine Ruhe hat und nicht ständig Rücksicht auf den Verkehr und das eigene Leben nehmen muss. Die Oberthrakische Tiefebene entpuppt sich dabei aber als bei weitem nicht so flach, wie sie vom Balkangebirge aus aussah. Kleine giftige Wellen und schlechte Straßenbeläge ziehen schnell die Kraft aus den Beinen. Konrad ist immer wieder schwindelig und er fühlt sich zunehmend schwach. Da wir weiterhin nur die Bulgarien-Landkarte mit einem Maßstab von 1:700.000 haben und wir noch immer die kyrillischen Straßenschilder nicht lesen können, verfahren wir uns zudem hin und wieder oder wissen nicht immer, was der ideale Weg ist. Während ich das ergründe, legt sich Konrad in den Schatten von Bäumen. Einmal setzen wir uns dabei in eine Schonung von merkwürdigen fremden Laubbäumen mit großen Dornen. Solche Bäume haben wir noch nie gesehen. Wir sind soweit weg von zuhause, hier in mitten einer unwirklichen Gegend. Der Boden ist von Hasenköteln bedeckt. Oft stehen auf dem weiteren Wege Wiesen und Felder in dunklem Rauch, weil diese in der Trockenheit immer wieder in kleinen Schwelbränden verbrennen.

Wir passieren die Städte Cirpan und Dimitrovgrad. Letztere ist eine junge, nach sozialistischem Modell gepresste, Industriestadt. Verkommene Wohnblocks  säumen den Weg zu verfallenen Chemie- und Maschinenbaustandorten. Die Stadt ist Tod. Wenig später machen wir unter einer kleinen Brücke an einem Bach Pause, Konrad muss wieder neu zu Kräften kommen und schläft. Auch danach werden die Bilder absoluter Armut nicht weniger:  an einer riesigen Wellblechhütten-Siedlung, erinnernd an afrikanischen Townships und südamerikanische Slums, ohne Wasser- und Stromversorgung, fahren wir entlang.

Weiter macht Konrad:

Schnell fahren wir weiter uns lassen das Elend hinter uns, bevor wir noch bebettelt werden. An einer Tanke erleichtere ich mich, während Stefan über den Weg grübelt. Die Entscheidung ähnelt einem Münzwurf, war am Ende aber richtig. Im Zickzackkurs und hoch und runter fahren wir weiter. Bald kommen wir an eine große Straße. Doch die ist stark befahren und das kotzt Stefan an. Aber der Weg hier ist auch scheiße. Ich muss sehr vorsichtig fahren, die Straßen sind schlecht. Soll er doch durch die Pampa gurken, ich fahre ab sofort nur noch große Straßen!!!

Stefan bemerkt meinen Unmut und meine Schwäche und schlägt ein vorgezogenes Etappenende vor, denn eigentlich sollte es heute noch bis an die Grenze nach Svilengrad gehen. Dafür bin ich ihm dankbar. Schnell ist auf der Bulgarienkarte ein Zeltplatz entdeckt und wir beschließen uns mit Nahrung auszustatten und dort hinzufahren. Dafür haben wir zwar morgen 30 Kilometer mehr bis Griechenland, doch das ist mir egal. Nicht egal dürften Stefan die nächsten Kilometer gewesen sein, denn die Straße ähnelt einer Autobahn und wir geraten in türkischen Transitverkehr. Das Zeltplatzerspähen ist nicht einfach. Kurz bevor wir aufgeben wollen, unter anderem auch weil die Straße mit dem Zeltplatzsymbol wieder Richtung Plovdiv, zum heutigen Startort führt, entdecken wir auf der anderen Straßenseite ein Motel- und Campingplatzschild. Wir warten eine Verkehrspause ab und sprinten quer über die Autobahn und wuchten die Räder über die Mittelleitplanke. Ich bin zu schwach und schaffe es nicht, erst als Stefan zurückkommt und zupackt schaffen wir es und kommen in Sicherheit.

Eine kleine Straße schlängelt sich nun einen kurzen Berg durchs Dickicht hinauf, wir entdecken zwar keinen Zeltplatz aber das Motel, was wie ein Horrormotel oder Spukmotel aussieht. Eine riesige Anlage, ein richtiger Komplex, doch kein Leben ist zusehen, die Brunnen und Bassins davor sind leer und zugewachsen. Die Rezeption ist ein Schalter wie in der U-Bahn, von einem Zeltplatz weiß die Frau dahinter nichts oder will nichts wissen. Dafür zeigt sie uns die Preise des Motels: Umgerechnet fünf Euro würde uns die Nacht hier kosten. Wen interessiert hier eigentlich noch der Weg zum Zeltplatz?

Wir checken im Spukhotel ein und sind allem Anschein nach die einzigen lebendigen Gäste. Die Flure sind dunkel, es herrscht Totenstille. Im Zimmer angekommen duscht Konrad erstmal und möchte auf dem Klo seine Ruhe haben. Da es keine Tür zwischen Bad und Zimmer gibt, gehe ich ein wenig durch das Spukmotel. Alle Zimmer sind offen, einige haben Terrassen. Alle Betten sind gemacht. Aber kein Mensch begegnet mir. Hinter einer Glaswand ist ein Konferenzraum mit rundem Tisch, eingestaubt und wohl seit Ewigkeiten unbenutzt. Hinter einer anderen Tür ist ein Tanzsaal in welchem sich aber nun Tische und Stühle stapeln. Im Keller ist eine Bar mit Striptease-Stange, aber kein Kellner und auch keine Tänzerin, überhaupt kann ich überall, auch im internen Bereich rumlaufen, ohne das ich jemanden begegne, der hier wohnt oder arbeitet. Seltsam. Naja ein Spukmotel halt. Als ich zurück in unser Zimmer komme ist Konrad verschwunden und eine Blutspur führt vom.. Konrad auf seinem Bett und liest in Seelenruhe den Istanbul-Reiseführer. Wir machen im Zimmer Abendessen und gucken bulgarisches schwarz-weiß-griesel-Fernsehen auf einem Minigerät.

Bevor ich schlafen gehe, schaue ich nochmal ins Foyer zu unseren Rädern, dabei höre ich vor der Eingangstür Stimmen. Ich folge ihnen und finde zum Hotel-Chef, nebst Frau und Tochter. Wir kommen ins Gespräch, die Familie bewirtschaftet dieses riesige Hotel alleine. In der Gegen gibt es Mineralbäder, aber seit einigen Jahren ist hier aber nichts mehr los. Deswegen wurde aus dem Hotel nun ein Motel, aber auch Brummi-Fahrer kommen selten vorbei. Der Hotelchef möchte von mir wissen, wie mir Bulgarien gefällt. Ich erzähle ihm daraufhin von unserer Radreise, erwähne dabei aber nur positives über sein Heimatland.  Er überrascht mich damit, dass er Sachsen und auch Dresden sehr gut kennt: In den 80ern hat er in der DDR viel gearbeitet. Zum  Beispiel hat er auf der Prager Straße im Dresdner Zentrum  die „Pusteblumen“, eine markante und wohlbekannte Springbrunnenanlage gebaut. Es freut ihn sehr zu hören, dass es die Pusteblumen noch immer, wenn auch an einem anderen Platz, gibt und sie die Menschen erfreuen. Viele Details aus Dresden sind ihm noch bekannt, er will unendlich viel über alles wissen, ob es diese und jene Häuser noch gibt, wie sich Dresden entwickelt hat. Die Welt oder besser die ehemaligen Ostblockstaaten sind ein Dorf. Später hat dann auch noch in Karl-Marx-Stadt als Koch gearbeitet. Dass diese Stadt inzwischen Chemnitz heißt, hat sich inzwischen aber auch bis in die hinterste Balkanecke rumgesprochen.

Wir reden an diesem Abend noch lange über Gott und die Welt. Seine Tochter arbeitet übrigens manchmal in der Bar als Striptease-Tänzerin, erfahre ich nebenbei. Ob wir uns ein Bündel Geldscheine organisieren und damit dann in die Stripbar stolzieren sollten? Aber woher bekommt man hier auf die schnelle ein Bündel Geld? Naja wir lassen es lieber.

Konrad ging es zum Abend zu besser, seine Bauschmerzen haben nachgelassen. Vielleicht ist er ja morgen wieder gesund und fit und wir müssen uns keine Sorgen um das Erreichen Istanbuls mehr machen. Dass wir heute Nacht nicht draußen im Zelt schlafen und dass man sich hier richtig duschen und aufs Klo gehen konnte, ist sicher und hoffentlich gut für ihn.

Denn dann geht’s Morgen nach Hellas!

 

#26

Mittwoch, 10.09.2008

Haskovo - Svilengrad - Orestiada (GR)

139,8km

6:35 h

av. V = 21,2 km/h

↗ 501 hm

↘ 616 hm

av. P = 80 W

23°C - 36°C, heiter bis sonnig

20 BGN (Lew) & 15 €

 

Schon nach wenigen Kilometern ist heute zum ersten Mal Istanbul ausgeschildert. Noch verrät uns das Schild die Entfernung bis zum Bosporus nicht, aber alleine seine Anwesenheit motiviert ungemein.  Im Süden spannt sich nun ein nächstes Gebirge auf: Die Rhodopen trennen Bulgarien von Griechenland. Doch auf eine mühsame Bergetappe müssen wir uns dennoch heute nicht einstellen, unser Weg führt an diesen Bergen vorbei, genau wie der Fluss Marica in seinem Lauf zum Ägäische Meer einen barrierefreien Zugang findet. Motivierend sind zudem Tage wie heute immer, weil man eine neue Staatsgrenze überschreiten wird und das bringt eine große Vorfreude mit sich. Ein neues Land und eine neue Sprache, welche man zwar wieder nicht versteht, die aber dennoch einen neuen fremdländischen und fernen Klang in sich trägt. Wir gehen also äußerst positiv eingestellt in den neuen Tag.

Zur Grenzstadt Svilengrad, die etwa 60 Kilometer vom Motel und dem Tagesstart entfernt liegt und wo einst der mythische Kampf zwischen Zeus und seiner Frau Hera stattgefunden haben soll, führen zwei Straßen. Eine Straße ist in der Karte rot eingezeichnet, was in Deutschland für eine Bundesstraße stehen würde und hier in Bulgarien ähnlich ist. Die andere Alternative ist gelb mit rotem Rand und symbolisiert auch hier eine Autobahn. In Bulgarien gibt es davon nur zwei Stück: Die eine führt von Sofia, der Hauptstadt, nach Varna am Schwarzen Meer und die andere ebenfalls von Sofia durch unser Thrakien bis nach Svilengrad. Und obwohl wir die blauen Autobahnschilder immer meiden und uns an grünen Schildern orientieren, sind wir plötzlich auf eben einer dieser beiden bulgarischen Autobahnen gelandet. Für die örtlichen Verkehrsplaner und Wegweisersetzer ist das die einzig logische Weise um mit dem Auto an die Grenze zu gelangen. Klar, an die Hand voll Radfahrer denkt man dabei nicht. Der Weg zur Landstraße bleibt uns so verborgen. Was sollen wir nun tun?  Wie fahren wir hier weiter?

Auf der Autobahn! Der erste Schrecken verfliegt schnell, denn die Autobahn ist nicht so stark befahren wie etwa die A4 und sie hat einen riesig breiten Standstreifen. Hin und wieder werden wir angehupt, doch dem akustischen Warnsignal folgt dann meist ein freundliches Winken. Zweimal passieren wir auch stehende Polizeiwagen, die Beamten begrüßen uns freundlichen und klatschen sogar. Wie angenehm es ist, wenn die hiesigen Gesetze von den Ordnungshütern einmal zurückgestellt werden und sie aus Bauch heraus entscheiden, dass diese beiden Radfahrer schon gut genug auf sich selber aufpassen können und wissen was sie da tun. Luxuriös wird später sogar, als wegen Bauarbeiten die eine Autobahnseite komplett gesperrt wird und wir auf diese Spuren wechseln und nun eine Autobahn für uns alleine haben.

Während 30 Kilometer Luftlinie bei so einer Tour schnell mal ein paar Stunden kosten können, weil die Wege kreuz und quer aber nicht direkt zum Ziel führen und man außerdem ständig neu auf die Karte schauen muss, die dann wiederum oft nur wenig mit der Realität vor Ort zutun hat, kommt man auf der Autobahn auch ohne Motor unheimlich schnell zum Ziel. Nach etwas über eine Stunde erreichen wir mit Höchstgeschwindigkeit Svilengrad, am Dreiländereck von Bulgarien, Griechenland und der Türkei. Bis Istanbul währen es auf der Autobahn noch etwa 270 Kilometer, unser Route wird uns aber nun südlicher, durch Griechenland und am Marmarameer entlang zum Ziel führen. Der Umweg beträgt etwa 200 Kilometer. Gründe dafür gibt es reichlich: Erstens darf man in der Türkei nicht einfach so auf der Autobahn mit dem Fahrrad unterwegs sein, auch sorgt zweitens die Plattentektonik dafür, dass die Afrikanischen und die Eurasische Platte das nerviges Strandža-Gebirge vor Ort auffalten und man damit auf der kompletten Strecke ständig nur bergauf und wieder bergab fährt. Der dritte Grund für mich ist der grässliche Transitverkehr und als krasser Gegensatz dazu auf unserem Umweg die ruhigen und verträumten Straßen entlang des Marmarameeres. Viertens und Last but not Least: Griechenland.

So nehmen wir dir Svilengrader Abfahrt und verjubeln unsere letzten Lew für Eis und kalte Hotdogs. Die griechische Grenze zu finden ist gar nicht so leicht. Kein Svilengrader kennt den Weg, alle wollen uns direkt in die Türkei schicken. Eine Stunde irren wir so konfus durch die Stadt bis uns Dutyfree-Geschäfte und das Niemandsland eines Grenzstreifens zeigen, dass wir den richtigen Weg schließlich doch gefunden haben und wir Bulgarien verlassen und nach Griechenland einfahren können. Die Grenzstation liegt am Ende eines steilen Anstieges, total verschwitzt zeigen wir die Pässe vor und werden kontrolliert. Das Einführen von Kampfstoffen nach Griechenland ist verboten und da auch Pfefferspray ausdrücklich dazugehört und wir unseres noch nie einsetzten konnten, hat Konrad ein wenig Bammel, dass man uns für Mini-Terrorristen halten könnte. Wir werden nach dem Ziel unserer Reise gefragt und misstrauisch beäugt, doch anschließend nicht durchsucht. Da sind wir also im Land des Rehakles, des Fußball-Europameisters von vor vier Jahren.

Auf der Europastraße 85 die von der Ostsee in Litauen bis zum Ägäischen Meer in Alexandroupolis führt, fahren wir durch den touristisch wenig erschlossenen Teil von Griechenland. Obwohl es eine der ältesten Kulturlandschaften Europas und bekannt war für seine griechischen Philosophen ist, ist in Thrakien nicht viel los. Abgesehen von Melonen die am Straßenrand wachsen und auf die wir uns bei jeder Gelegenheit stürzen. Ich bin hin und weg, zum einen weil mir Melonen die liebsten Früchte sind und zum anderen weil sie hier einfach so vor sich hin wachsen, wie zu Hause Äpfel oder Birnen. Die Melonen sind zwar kleiner als die, die man im Handel findet, aber ich schwöre es: sie schmecken tausendmal besser. Schon alleine weil man sie einfach so vom Boden aufheben und schlachten kann. Wir beschließen nun jede Melone zu essen, die wir erspähen können.

Vorbei fahren wir an griechischen Dörfern wie Trigono, dessen Häuser allesamt weiße Wände und rote Dächer haben und die einen mediterranen Flair versprühen. Wir durchfahren Baumwollfelder und einige Kilometer weiter auch ein Melonenfeld. Gemäß unserer Vereinbarung von der leckeren, kleinen Wassermelone eben, halten wir und schlagen uns den Bauch voll. Wie die Wahnsinnigen fallen wir in das Melonenfeld ein, es ist schon abgeerntet und nur noch die kleinen und kümmerlichen Melonen blieben zurück. Die erste Melone die wir öffnen ist nicht gut, auch die nächste nicht, dann hat eine innen das saftige und knallrote Fleisch, wir verputzen sie umgehend. Die nächsten Melonen sind wieder schlecht. Auf eine gute Melone kommen fünf schlechte. Konrad zerschmettert die Melonen einfach nur noch, damit es schneller geht. Wie eine Wildschweinherde verlassen wir die Ecke des Feldes auf der wir gewütet haben, die Bäuche randvoll mit Melonensaft.

Konrad bezahlt seinerseits dieses Gelage mit wiederkehrenden Magenkrämpfen und Durchfall. Das hätte man sich eigentlich denken können, dass eine Gastroenteritis nicht von einem Tag auf den anderen verschwindet, zumal er die Empfehlung Diät zu halten in den Wind schlug. Blauschimmelkäse zum Frühstück, Eis und Hotdogs zum Mittag und zum Kaffeetrinken Wassermelonen ohne Ende. Die Zeche dafür bezahlt er nun ständig mit schwerem Durchfall, für den er sich immer tief in Maisfelder zurückzieht. Klopapier haben wir ja genug, da wir zur Sicherheit ein paar Rollen aus dem Spukmotel mitgenommen haben. Und während Konrad alles bereut, habe ich einen ruhigen Nachmittag. Schließlich ist er auch bereit Loperamid-Tabletten einzunehmen, die ich ihm aus unserer Reiseapotheke verschrieben hatte. Das tolle Gefühl, der Höhenrausch, in Griechenland zu sein, ist aber erst einmal vorbei. In Orestiada kaufen wir Abendessen ein, für mich Reis mit Tomatensoße und für den Patienten Konrad Salzcracker, als leicht verdaulichen Kohlenhydraten damit sein Darm wieder zu Kräften kommt. Seit Österreich können wir nun mal wieder mit unserer Heimatwährung, dem Euro bezahlen und heben am ec-Geldautomaten gleich ausreichend, nicht nur für Griechenland, sondern auch für unsere Ankunft in Deutschland ab.

Um Ruhe zu haben verlassen wir die Straße hinter dem Ort und fahren ein paar hundert Meter einen Feldweg hinein und schlagen unser Nachtlager am Rand eines Kartoffelackers auf. Etwas weiter versprengt eine Bewässerungsanlage im hohen Bogen Wasser auf das Feld. Mensch, hier können wir nicht nur wildcampen sondern auch wildduschen. Durch den triefendnassen und tiefen Schlamm waten wir zur Openair-Dusche, es ist ja egal wie wir jetzt aussehen, wenn wir uns sowieso gleich ausgiebig waschen können, denken sich jeder. In diesem Moment kommt strahlend der Bauer auf seinem Traktor daher gefahren, grüßt und freundlich und stellt die Anlage aus. Da stehen wir nun: Verschlammt bis zu den Knien, verschwitzt vom Tage, die Hände und Arme klebend von Melonensaft und gucken uns fragend an. Scheiße.

Zum Glück konnten wir in Orestiada das Schnäppchen eines Sixpack Mineralwassers nicht ungenutzt vorbei ziehen lassen und kauften insgesamt neun Liter Wasser. Acht Liter verbrauchten wir davon nun zur abendlichen Katzenwäsche. Konrad wirft noch zwei Durchfall-Pillen ein und isst mit mir zusammen den Reis. Die Cracker dienen uns beiden als Dessert.

Unsere Räder schwächeln auch immer mehr. In Konrads Hinterrad haben die gebrochenen Speichen aus Belgrad und Bulgarien nun eine Acht verursacht, so dass wir die Bremse aushängen und außer Betrieb nehmen mussten. Meine Gangschaltung ist inzwischen soweit verbogen, dass ich nur noch relativ hochfrequent auf den beiden kleineren Kettenblättern fahren kann. Es wird knapp bis Istanbul, aber es ist ja auch nicht mehr weit. Drei Tage, nur drei Tage noch, so schätzen wir ist es bis zur Megastadt am Bosporus

 

#27

Donnerstag, 11.09.2008

Orestiada - Soufli - Keşan (TR)

114,1 km

5:19 h

av. V = 21,4 km/h

↗ 587 hm

↘ 511 hm

av. P = 100 W

16°C - 34°C, sonnig, trocken und Gegenwind

12 € &  24 YTL (neue Türk. Lira)

 

Trotz des harten Bodens war der Schlaf gut und die Laune ist ebenfalls auf einem hohem Niveau, denn heute gibt ist wieder ein Feiertag. Nicht in Griechenland und seit 9/11/2001 auch gewiss nicht in den USA, aber wir beide werden in wenigen Kilometern den dritten Megameter, den 3.000 Kilometer, der Radtour feiern können. Konrad geht es den Umständen seiner Krankheit entsprechend prächtig und so radeln wir mit knurrendem Magen los.

Etwa zwanzig Kilometer später finden wir in Didymoticho einen Lidl-Supermarkt und frühstücken am Rand des Parkplatzes gleich das so eben erworbene. Wir können dabei ein Ehepaar beobachten, dass seine Einkäufe in einem Auto mit deutschem Kennzeichen verstaut. Mit dem Auto nach Griechenland fahren, kann ja jeder. Wir werden ein wenig arrogant - aber ich denke, dass hat man sich nach vier Wochen auch verdient – bevor wir aufschrecken, weil wir an einem Ameisenhaufen dinieren. In Didymoticho war einst auch Kaiser Barbarossa auf seiner letzten Reise vorbeigekommen, ähnlich unserer Tour führte er sein Heer 1189 die Donau entlang und über den Balkan, doch im Gegensatz zu uns zerstörte er Didymoticho auf seinem Kreuzzug gegen die Muslime.

Als wir das kleine Städtchen verlassen, hält Konrad mit seiner einen Bremse plötzlich an. Sein Hinterreifen verliert Luft, denn er hat den ersten Platten unserer Tour. Ersatzschläuche hatten wir in genügendem Ausmaß mitgenommen, so dass wir uns das flicken gänzlich sparen und den kaputten Schlauch an die Leitplanke binden. Wer ihn mal sieht, könnte mir ein Foto davon schicken. Uns kostet es eine kleine Ewigkeit, den um den Schlauch zu wechseln, müssen wir das Fahrrad komplett entladen und alles auf die Straße legen. Bei der Tour de France würde uns nun der Materialwagen des Teams einfach ein komplettes neues Fahrrad hinstellen. Doch das hier ist eben nicht Frankreich und wir sind nicht Jan Ullrich und Andreas Klöden. Der Übertäter für den Plattfuß war im Übrigen ein scharfkantiges Metallstück was auf dem Seitenstreifen der Straße lag und den Reifen aufschlitzte. Wie ärgerlich. Ansonsten haben die schwalbe-Marathon-plus-Reifen nämlich alles gehalten, was sie versprochen haben: Egal wie schlecht die Wege und Straßen waren, egal ob kantige Steine oder spitze Dornen, sie hielten immer dicht. Doch was zu viel ist zu viel, das Ding hätte auch einen PKW-Reifen gefährlich werden können.

Wenig später erreichen wir im Dorf Amori den dritten Megameter, gefeiert wird an der örtlichen Tankstelle in einem kleinen Pavillon, der für Ruhezeiten der LKW-Fahrer gedacht ist. Mit einer Dose Apfel-Fanta stoßen wir auf den Erfolg an und machen ein paar Erinnerungsfotos von uns und vom Kilometerstand auf dem Fahrradcomputer. Ich nutze die kleine Pause und rufe mit dem Handy bei einem Dresdner Fahrradladen an um per Ferndiagnose ein paar Tipps für meine Gangschaltung zu bekommen, die immer öfter von alleine die Gänge wechselt. Man kann mir auch tatsächlich wertvolle Ratschläge geben und nun geht es wieder etwas besser.

Unser Bild von Griechenland beschränkt sich auf diese eine Überlandstraße auf der wir fahren und auf das, was man von ihr aus sehen kann. Links können wir immer wieder über den kümmerlichen Grenzfluss Evros in die Türkei schauen. Zur rechten Seite bilden sich oft bizarre Kalkfelsformationen und Canyons, die von dichten Pinien-, Lorbeer-, und Korkeichengestrüpp bewuchert sind. An dieser Hartlaubvegetation, mit ihren kleinen, dicken und festen Blättern merkt man, dass man inzwischen in der Mittelmeerregion mit ihrer typischen Vegetation angekommen ist. Photographieren kann man diese Landschaft leider nicht, immer wieder weißen Verbotsschilde daraufhin und da zudem ständig militärische Fahrzeugkolonen an uns vorbei brausen, akzeptieren wir sie. Sicherlich hat all das mit der Nähe zur Türkei und dem latent vor sich hin schwelenden Konflikt beider Statten zutun, denn die Herrschaftsverhältnisse der Ägäis-Inseln und von Zypern sind weiterhin nicht geklärt.  Wirtschaftliche und militärische Interessen stehen auf dem Spiel. Hoffentlich entspannt sich die Situation weiterhin und man geht aufeinander zu und nicht los. Inzwischen ist Griechenland einer der größten Befürworter eines türkischen EU-Beitritts.

Die Stadt Soufli, durch die wir nun fahren, ist ein weiteres Beispiel für das griechisch-türkische Miteinander des vergangen Jahrhunderts. Einst zum Osmanischen Reich gehörend erlebte die Region ihre Blüte als die gesamte Bevölkerung mit der Seidenproduktion beschäftigt war. Nach der Niederlage der Osmanen im ersten Weltkrieg fiel Soufli und die gesamte europäische Region bis zum Bosporus den Griechen zu. Das konnten die Türken nicht auf sich sitzen lassen und so kam es sofort nach dem Ende des ersten Weltkrieges im Jahre 1919 zum griechisch-türkisch Krieg, welcher bis 1922 andauerte. Für die Griechen kam es zur “Kleinasiatische Katastrophe“, während die Türken ihren Sieg als Sieg im “Türkischen Befreiungskrieg“ feierten. Die Grenzen wurden neu entlang des Evros gezogen und Thrakien geteilt. Für Soufli bedeutet das, dass man viel Anbaufläche des für die Seidenproduktion benötigten Maulbeerbaumes verlor und keinen schiffbaren Fluss mehr hatte, da dieser nun Grenzfluss war. Das führte zum wirtschaftlichen Niedergang der gesamten Region. Bemerkenswert an diesem Friedensvertrag von Lausanne, der all das regelte war auch, dass die Muslime aus der griechischen Region in die Türkei auswandern mussten und die Türken griechisch-orthodoxen Glaubens nach Griechenland ausgewiesen worden. Fast zwei Millionen Menschen betraf dieser Bevölkerungstausch um religiöse Spannungen von vorne herein zu vermeiden.

Genug Geschichte. Wir fahren immer weiter in Richtung Süden und wundern uns dabei über die vielen kleinen modellgroßen Kirchen am Straßenrand. Manchmal steht so eine Minikirche als exakte Kopie vor ihrem eigentlichen Original. Was in Deutschland die Gartenzwerge sind, sind hier auf jedem Kilometer diese Miniaturkirchen. So  fahren wir von Dorf zu Dorf bis wir etwa 25 Kilometer hinter Soufli unsere Europastraße verlassen, denn hier nun bald wollen wir den letzten Grenzübergang in die Türkei nehmen. Aber nicht ohne uns vorher noch mit Getränken zu versorgen, denn hinter der Grenze gibt es zig Kilometer einfach nur Nichts und schon erst recht keine Geldautomaten, wo man an türkisches Geld kommen könnte. Doch es ist Mittagszeit und so haben alle Geschäfte während der Siesta zu. Auf die Inhaber wollen wir aber auch nicht bis sonst wann warten und so fahren wir weiter. Konrad hat dazu die Idee, dass es in der Türkei und in Griechenland sicherlich unterschiedliche Benzinpreise gibt. Alles andere wäre ein großer Zufall. Wenn es da nun eine Differenz gibt, führt die automatisch - wie zwischen Deutschland und Tschechien - zu einem Tanktourismus in eines der beiden Länder. Es wäre also schlau von einem Geschäftsmann auf einer Seite der Grenze eine Tankstelle zubauen, die dann gewiss keine Siesta hat. Und so gab es dann auch in Griechenland, direkt vor der Grenze einige Tankstellen, wo wir Getränke und ein Eis einkaufen konnten. Während wir den Grenzverkehr gespannt beobachten, kommt ein Hund groß wie ein Pony zu uns und macht uns Angst, doch alles bleibt friedlich.

An der Grenze müssen wir erst einmal warten und uns anstellen, dabei treffen wir einen Niederländer, der mit dem Taxi bis an die Grenze gefahren wurde und nun zu Fuß in die Türkei möchte. Doch das wird im verwehrt. Man braucht ein Auto oder eben ein Fahrrad und so wartet er bis ihn ein Brummi-Fahrer mitnimmt. Hinter dem griechischem Checkpoint kommt der Grenzstreifen, der es an dieser Grenze aber mal in sich hat: gepanzerte Fahrzeuge stehen bereit und türkische Soldaten mit schwerer Bewaffnung bewachen ihr Heimatland. Einen Soldaten will ich etwas fragen, doch als ich mich ihm nähere nimmt er nervös seine Maschinenpistole in Anschlag. Ich überleg es mir anders und fahr einfach weiter ohne zu fragen. Der Grenzfluss Evros ist ausgetrocknet, seit Wochen kann es hier nicht mehr geregnet haben. Nun erreichen wir der türkische Checkpoint, der sich durch eine überdimensionale Türkei-Fahne ankündigt. Drei Mal müssen wir an unterschiedlichen Punkten unsere Pässe vorzeigen, bis wir abschließend alle Kontrollen durchlaufen haben und endlich in der zivilen Türkei angekommen sind. Die letzte Grenze der Tour war gleichzeitig ohne Zweifel, die am schärfsten bewachte.

Die nächsten 30 Kilometer bis Keşan, der ersten größeren Stadt in der Türkei, führen durch eine Steppenlandschaft. Die Trockenheit der letzten Zeit hat alles verdorren und vertrocknen lassen. Schnurrgerade führt die Straße durch diese Ödnis. Angeblich soll in dieser Gegend sogar Reis angebaut werden, doch dafür müsste es erst einmal einen ganzen Monat lang regnen. In Keşan ankommend halten wir an einem Supermarkt, welcher an der Kreuzung der Nord-Süd und der West-Ost-Europastraße liegt. Einmal mehr habe ich Angst unsere Fahrräder zwar angeschlossen, aber unbeaufsichtigt, hier auf einem solchen Parkplatz abzustellen. Der Supermarkt ist riesig groß, beim Reinkommen muss man durch einen Sicherheitsschleuse mit Metalldetektor, genau wie am Flughafen, gehen und darf weder Waffen noch Fotoapparate bei sich tragen. Also bleibt auch dieser am Fahrrad. Drinnen ist es angenehm kühl. Das erste was wir hier und damit auch in der Türkei essen ist Döner. So ist endlich auch ein Klischee eines Landes, welches man so in sich trägt,  bestätigt worden. 

Unsere Türkeikarte dieser Region, welche in Deutschland gar nicht so einfach zu beschaffen war, verrät uns bei Keşan einen Zeltplatz und dann erst einmal lange keinen mehr. Und da wir uns außerdem über den weiteren Streckenverlauf nicht auf die schnelle einigen können, endet diese Tagesetappe, obwohl erst Nachmittag ist, schon hier. Der Zeltplatz ist schnell gefunden und ist ein Garten neben einer Gaststätte. Der kleine und schmächtige Besitzer, auf dessen Auto ein Türkei- und ein Deutschlandaufkleber haften, lädt und herzlich auf seinen winzigen Rasen ein, für den er nicht mal eine Gebühr erhebt. Wir trinken zum Ausgleich in seiner Gaststätte zwei Bier, das typisch türkische Efes hat er leider nicht im Angebot und so gibt’s dänisches Tuborg. Gewaschen wird sich hinter einer Mauer und etwa fünf Minuten Fußmarsch durch Disteln später im Stausee Kocadere Göleti.

Am Abend hören wir zum ersten Mal einen Imam der über Lautsprecher aus einer Moschee Koranverse rezitiert. Seine Stimme wirkt beruhigend und klingt wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht.

 

#28

Freitag, 12.09.2008

Keşan - Sarköy - Uçmakdere

113,3 km

6:16 h

av. V = 18,0 km/h

↗ 971 hm

↘ 1000 hm

av. P = 80 W

18°C - 36°C, sonnig, trocken, heiß

n.V.

 

Der neue Tag beginnt mit der Diskussion über den weiteren Streckenverlauf, die Dinge liegen so: Von Keşan bis Istanbul sind es auf der dicken Transitstraße 230 Kilometer, es ist die Direttissima. Die Alternative geht nicht auf dem kürzesten Weg nach Osten, sondern erst einmal 40 Kilometer nach Süden zum Marmarameer. Von da dann immer an der Küste entlang bis Tekirdağ, wo man unausweichlich wieder auf die grausige Transitstraße kommt, welcher man hier bis Istanbul folgen muss. Insgesamt ein Umweg von etwa 45 Kilometern, also noch 275 Kilometer bis zum Ziel.  Auf unserer Karte ist die kleine Küstenstraße mit dem Zusatz versehen: “Picturesque Road“, wie ein Magnet zieht es mich daher in Erwartung verschlafener Fischerdörfer, verträumter Naturstrände und einer letzten Ruhe vor dem Sturm von Istanbul, zum Meer. Konrad, der immer mehr zum Pragmatiker und Verfechter einer allein zielorientieren Handlungsweise wird, möchte lieber den sprichwörtlichen Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach. Warum sollte man es sich schwerer machen, als es sowieso schon ist. 3000 Kilometer haben wir in den Beinen, zudem hat Konrad in den letzten Tagen nicht nur gegen die Kilometer an sich, sondern auch gegen seine Durchfall-Erkrankung angekämpft.

Wir können uns bis zum Frühstück in Keşans Stadtzentrum nicht richtig einigen, fahren dann aber dennoch unter Konrads Protest den Süd-Umweg und direkt ans Meer. Keşan selbst, lernen wir erst heute kennen. Gestern Abend sind wir nur daran vorbei gedüst und haben etwas außerhalb campiert. Wir entdecken die Moschee mit ihrer türkisfarbenen Kuppel und den zwei Minaretten. Von hier aus hat uns also gestern Abend der Imam in den Schlaf gesungen.

Während wir auf einer Mauer sitzend frühstücken, verfolgen wir das morgendliche Treiben. Die Schule scheint gerade zu beginnen, denn viele Kinder in feiner Schuluniform laufen durch die Gassen oder fahren mit einem der vielen winzigen Mini-Busse zu ihrem Ziel. Lieferwagen bringen dem Laden, wo auch wir uns mit allem Nötigen versorgt hatten, frische Lebensmittel. Die Kisten stehen auf der Straße im Verkehr, alle umfahren sie wie selbstverständlich. Gehupt wird trotzdem und immer, selbst wenn alles läuft.

Auch wenn es immer ein wenig schwer fällt, beginnen auch wir nun unser Tagewerk und brechen schließlich auf. Viel Militär ist in dieser Gegend auf den Straßen unterwegs, man liest in Reiseführern Warnungen, dass diese sehr rücksichtslos auf Radfahrer reagieren und keinesfalls bremsen würden. Also sind wir auf der Hut. Immer noch unter Protest erreicht Konrad den ersten richtigen Berg lange vor mir, indes mache ich mich auf ordentlichen Tacheles gefasst, denn dass es hier gleich so hügelig werden würde, hatten wir nicht ausgemacht, was ich aber auch wirklich nicht wusste. Doch oben am Korudağ-“Pass“ (350 M ü. NN), strahlt Konrad über das ganze Gesicht und auch ich verliere alle Anspannung und freue mich, denn was wir sehen ist zum ersten Mal das Meer. Es ist eine herrliche Bucht des Ege Denizi, des Ägäischen Meeres. Zwei kleine Inseln ragen aus den Fluten, des Tauchparadieses Golf von Saros. Unter den strengen Augen Mustafa Kemal Atatürks, der uns von einem Bild aus beobachtet, genehmigen wir uns in einem Restaurant eine kühle Cola. Auch wenn die 350 Meter Höhe im Vergleich zum Balkangebirge witzig wirken, sind wir schon ganz schön außer Atem. Vor hier aus kann man dafür aber in Südwest-Richtung die Gallipoli-Halbinsel erkennen. Von Alexander dem Großen, über die Großwesire des Osmanischen Reiches bis hin zum ersten Weltkrieg diente dieser Ort allen als Ausgangspunkt oder Schauplatz für große Schlachten. Und eben dieser Atatürk, vom Bild an der Wand des Restaurants, begann da als siegender Befehlshaber der Schlacht von Gallipoli gegen die Briten und Franzosen 1915 seine kometenhafte Karriere, die ihn schlussendlich zum türkischen Volksheld und als Begründer und Präsidenten der modernen Türkei auch weltbekannt machte. Die Cola zahle ich mit Geldnoten die sein Konterfei zeigen.

Wir fahren nun auf einer schurgeraden Straße hinab ans Meer. Die Füße hineinstellen oder baden können wir aber nicht, da es keinen Strand oder Meereszugang gibt. Eine Sumpf- und Schilflandschaft breitet sich im Tal aus. Es ist ein Paradies für Vögel, die hier zu Tausenden Zwischenstation auf ihrem langen Weg nach Afrika einlegen. Auch Weißstörche waten auf der Suche nach saftigen Fröschen durch das Schilf. Vielleicht kommt einer von ihnen ja auch aus Sachsen oder dem Spreewald.

Im Örtchen Kavak am Ende des Sumpfgebietes können wir uns zum letzten Mal auf der Landkarte lokalisieren. Wie wir dann die nächsten Stunden verbracht haben, erschließt sich mir bis heute nicht. Denn entweder war die Karte vollkommen falsch oder die Landschaft hat sich seit dem Druck der Karte 1994 grundlegend verändert. Es ging so los, dass wir die Straße nun verlassen mussten, da wir ja nicht auf die Gallipoli-Halbinsel drauf und in eine Sackgasse fahren wollten. Zwischen dem Ägäischen Meer und dem Marmarameer sind es hier, am Beginn der trennenden Halbinsel, nur fünf Kilometer Luftlinie. Doch vom Anfang an führen die Straßen nicht in die Dörfer, die es auf der Karte gibt. Zu erst quälen wir uns an Bunkern vorbei einen Berg hinauf, kein Mensch ist zusehen, oben angekommen steht mitten auf dem Weg ein Tor. Soldaten kommen angefahren und weißen uns daraufhin, dass das ein militärisches Sperrgebiet ist. Ja so sieht es auch aus. Den Versuch zu fragen, ob wir nicht dennoch hier langfahren dürfen, hätte ich mir auch sparen können. Zurück zum Ausgangspunkt also und die andere Straße nehmen, diese verliert schnell ihren Asphalt und ist nur noch eine Schotterpiste. Wir durchfahren ein kleines Dorf, auf der Karte ist es nicht zu finden und auch kein Mensch ist zu sehen, der uns weiter helfen könnte. Hinter dem Dorf endet die Zivilisation, wie wir sie kennen und es beginnt die Wildnis. Denn zwei Stunden lang begegnet uns kein Mensch, die fünf Kilometer sind längst drei, vier und fünffach überschritten. Kein Marmarameer ist zusehen, nur der Schotterweg und rotbrauner Boden und die vertrocknete Landschaft. Es geht bergauf und hinab, teilweise fahren wir am Stacheldraht des Militärischen Sperrgebietes entlang. Auf der linken Seite, werden die Berge immer höher. In einer Senke mache ich kurz halt und warte auf Konrad, denn auf den Hügeln um uns herum haben sich wilde Hunde versammelt. Sowohl zur rechten, als auch zur linken Seite stehen sie da, wie Indianer, die gleich losschlagen wollen. Es ist totenstille. Keiner von den etwa zehn Hunden bellt oder heult. Sie sind gut 200 oder 300 Meter von uns entfernt, stehen da am Rand des Dickichts und beobachten uns. Darauf zu hoffen, dass gleich ein Mensch vorbei kommt und sie zurück pfeift, brauchen wir hier nicht. Sie würden wohl auch keinem Menschen hörig sein. Wir stehen da und rühren uns nicht, sie stehen da und haben uns umzingelt. Wir bewaffnen uns mit dem was wir haben: Der Eisenkette und dem Pfefferspray, viel lieber hätte ich hier aber jetzt gerne einen Panzer oder zumindest eine Ritterrüstung. Konrad fährt langsam weiter, ich möchte ihn vor mir wissen, wenn es in den finalen Sprint geht. Kaum haben wir uns in Bewegung gesetzt, ist dass das Signal woraufhin die Hunde losstürmen und angreifen. Von allen Seiten stürzen sie wild kläffend zu uns herab. Beide treten wir mit allen Kräften die wir mobilisieren können und unterstützt durch eine ordentliche Ladung Adrenalin in die Pedale. Die Räder knallen über den Schotter und das Geröll, für uns gibt es jetzt kein morgen und auch kein in einer Stunde, allein diese Flucht zählt. Im Tunnelblick nur noch die nächste Hügelkuppe, nach der es hoffentlich hinab in ein Tal und in Sicherheit geht. Hinter mir kommen die Hunde immer näher ich kann sie hören und fühlen. Ich wage einen Blick zurück, nicht eine Hand lass ich vom Lenker los, die Gefahr bei diesem Tempo und auf dieser Piste zu stürzen ist zu groß. Was ich sehe sind sechs Hunde, die fast schon auf meinem Gepäckträger sitzen. Zwei Große versuchen immer wieder einen Angriffspunkt zu finden, scheitern aber vorerst an den dicken Gepäckträgertaschen, dem einzige Schutz meiner Waden. Als sie mich endgültig eingeholt haben, bleibt mir nichts anderes übrig, als volles Risiko zu gehen und aus voller Fahrt eine Hand vom Lenker zu nehmen und mit dem Pfefferspray zurückzuschlagen. Dieses vier Zentimeter kleine Sprühdose ist alles was ich habe.

Geil! Den ersten Großen treffe ich auf Anhieb im Gesicht, wimmernd dreht er ab und fliegt auf seine Schnauze. Auch zwei weitere bleiben in den nächsten Momenten irritiert stehen. Jetzt bloß nicht selbst auch noch hinfliegen, denke ich mir und umgreife wieder mit beiden Händen den Lenker um die Sicherheit über mein Fahrrad zurückzugewinnen, doch das Spray hört nicht auf zu sprühen. Und so versprüht es sein Inhalt in die Luft und durch den Fahrtwind auch in mein Gesicht, in meine Augen und auf meine Lippen. Alles brennt furchtbar, meine Augenlider krampfen sich augenblicklich zu und tränen. Stur fahre ich weiter, die Hunde müssen ja nicht unbedingt von meinem Fauxpas wissen. Ich höre sie nicht mehr und da Konrad inzwischen eingeholt ist und die Gefahr vorbei zu sein scheint, halten wir an. Stille. Keine Hunde. Schnell wasche ich mit allem Wasser was wir haben, die Augen und Lippen aus, immer noch brennt es wie die Hölle. So krass hatte ich mir Pfefferspray nicht vorgestellt. Wir sitzen eine Weile am Rand des Weges und ruhen uns von dem Schrecken aus. Das hätte hier auch schnell schief aus gehen können. Und was wäre dann passiert? Was wäre, wenn einer gestürzt wäre? Hätten die Hunde uns aufgefressen? Aus der Distanz von Deutschland aus klingt es übertrieben, aber dort in der Türkei, auf einem Flecken Erde, der nicht mal in Karten verzeichnet ist, und wo Hunde keinen haben der sie brav füttert, da könnte ich mir zumindest vorstellen, dass sie es versucht hätten. Es war der letzte Hundeangriff auf unserer Tour von Dresden nach Istanbul, es war eine letzte Prüfung und Hürde.  Der finale Akt.

Wenig später erkennen wir am Horizont wieder das Meer. Dieses Mal ist es das Marmarameer, was sich im tiefen blau vom braun der dürren Landschaft abhebt.  Nur noch da runter, nur noch ans Meer und dann muss diese Ödnis ja ein Ende haben, sagen wir uns und suchen den Weg. Doch so einfach ist es nicht, die Wege führen nicht hinab, sondern wirren sich hier oben durch die Gegend. Bald verlassen wir die Wege gänzlich und fahren auf dem vertrockneten Boden zu Häusern, zur Zivilisation,  die wir ausgemacht haben. Doch auch Häuser versprechen keine Menschen. Müssen wir lernen. Viel mehr scheint hier eine Immobilienblase geplatzt zu sein. Ein ganzes Feriendorf ist im Rohbau eingeschlafen und nun holt sich die spärliche Natur ihren Besitz zurück. Endlich wieder Asphalt unter den Rädern habend, fahren wir durch das Dorf. Kaum ein Haus ist wirklich fertig und bewohnbar. Alle sind weggegangen. Vielleicht haben auch immer wieder malträtierende Hundebanden das Dorf heimgesucht und alle Bewohner aufgefressen? Gut vorstellbar.

Wir suchen uns einen Weg zum Meer und finden ihn schließlich auch. Direkt am Ufer ist ein Laden, der noch nicht aufgegeben wurde und wo wir wieder Wasser und andere Getränke nachkaufen können. Still wählen wir aus, was wir brauchen. Der Mann an der Kasse schaut uns an und beginnt, als wir bezahlen wollen, zu sprechen. Ich kann kein Türkisch. Konrad kann kein Türkisch und dieser Mann kann ganz gewiss auch kein Türkisch. Denn auch wenn wir nur einige wenige Wörter kennen, so kennen wir doch den Klang dieser Sprache ziemlich gut. Er spricht in Knacklauten, tief aus seiner Kehle kommen Geräusche komplett ohne Stimme. Wir geben staunend einen Atatürk-Geldschein hin, doch er redet weiter und weiter. Unsere Gesten müssten in der ganzen Welt als wir-haben-keine-Ahnung-was-sie-uns-sagen-wollen verstanden werden, doch er knackst unentwegt weiter. Zum Glück, kommt ein Junge in den Laden, schiebt den Mann beiseite und kassiert uns ab. Wir setzen uns auf eine Bank am Meer, genießen die eisgekühlten Getränke und fragen uns dabei immer noch, was das eben in dem Laden war, was das für ein ausgestorbenes Nest ist und wo, zur Hölle, wir überhaupt sind.

Letzteres versuche ich von einem älteren, türkischen Ehepaar direkt eine Bank weiter zu erfragen. Lange studieren sie bedenklich die Landkarte und tippen dann unsicher auf Sarköy. Sarköy? Ganz sicher nicht! Denn Sarköy soll einen Hafen, eine Polizeistation, ein Krankenhaus, ein Postamt, eine Tankstelle, drei Campingplätze und ganz fundamental auch Straßen, die den Ort mit der Außenwelt verbinden, haben. Nichts davon ist hier vorhanden. Das umherirren in dieser Gegend geht noch eine ganze Weile so weiter, eine Küstenstraße will sich partout nicht vor uns auftun. Schlussendlich müssen wir wieder von der Küste fort ins bergige Hinterland fahren, zwar sind wir jetzt wieder unter Menschen, kommen dabei aber nicht so richtig vorwärts. Das lässt sich auch statistisch belegen, denn unsere Durchschnittsgeschwindigkeit war seit dem sechsten Tag unserer Tour nicht mehr so niedrig, damals aber – es sei nochmal in Erinnerung gerufen – bin ich auch mit einem gebrochenem Tretlager durch Südböhmen gegurkt.

Inzwischen sind wir aber wieder auf Asphalt unterwegs und müssen daher nicht so viel Kraft in das ewige Hin und Her zwischen Küste und Dörfern im unmittelbaren Hinterland aufwenden. Innerhalb weniger hundert Meter kann sich dabei die Landschaft grundsätzlich ändern. Am Meer sieht es aus, wie an jedem Meer auf dieser Welt eben aussieht: Strand und Häuser. Weiter entfernt sind da diese roten Felsen und kleine, trübe Seen dazwischen in den Schluchten. Auf dem Marmarameer sieht man viele große Tanker, die auf dem Weg zum Bosporus und zum Schwarzen Meer sind. Ein paar Mal geht es noch steil an die Küste zurück und einmal auch wahnwitzig steil wieder hinauf in die Marslandschaft, so dass man fast, aber nur fast, absteigen und schieben muss. Dann sind wir wieder auf der Erde angekommen, eine normale Stadt mit normaler Infrastruktur erwartet uns: Sarköy. Das Umherirren hat nun ein Ende. Karte und Realität stimmen wieder miteinander überein und eine Straße geht, wie es sich gehört, an der Küste entlang. Auch die Tankstelle ist da und wir nutzen sie zur Erleichterung.

Als ich wiederkomme führt Konrad Smalltalk mit den Einheimischen. Was Aufgrund der Sprachbarriere eigentlich unmöglich sein musste. Doch der eine Türke, er ist in seinem besten Jahren,  spricht fließend deutsch, lebte viele Jahre in Deutschland, ging da zu Schule und wuchs  dort auf. Er berichtet Konrad von der aktuellen Trockenperiode, die uns auch schon allerorts aufgefallen war. Konrad erzählt ihm von der Radreise und beantwortet die Frage, wie ihm die Türkei gefalle, mit großem Heimweh nach Deutschland. Der Türke erzählt daraufhin eine Anekdote aus seiner Schulzeit in Deutschland: Der Lehrer habe ihn gefragt, was schöner sei: Deutschland oder die Türkei. Er antwortete damals, obwohl er in Deutschland schon sein ganzes Leben lebte: „Natürlich die Türkei“. Der Lehrer war verwundert, darauf gab der Türke: „Es ist doch die Heimat.“ Und da hat er so sehr Recht. So viel schönes haben wir auf unserer Reise gesehen, so viele nette Menschen sind uns begegnet, aber niemals würden Konrad oder ich Deutschland den Rücken kehren, denn da ist es am allerschönsten auf der Welt. Nur merkt man das erst, wenn man einige Zeit nicht mehr da war und aus der Ferne dann zurückdenkt an die Heimat. An Sachsen. An Dresden. An Zuhause.

Wir fahren nun die Küstenstraße recht idyllisch entlang und passieren dabei die Orte Mürefte und Güzelköy, wieder liegen sie anders als auf der Karte verzeichnet, aber dank des Meeres und der Straße und der Menschen kann man sich nicht mehr verirren. Am Wegesrand entdecken wir nun immer öfter Feigen- und Olivenbäume. Überhaupt ist es hier in der abendlichen Stimmung jetzt so wie es mir vorgestellt hatte. Ruhig radeln wir dahin, rechts das Meer und links die immer steiler und höher werdenden Felsen. Einzig wird die Stimmung dadurch gestört, dass Konrad wieder seinen Reisedurchfall aus Bulgarien bekommen hat und auch ich inzwischen in jedem Ort die Örtlichkeiten für einige Zeit aufsuchen muss. Wir wollen daher schnellstmöglich den Tag auf dem Rad für beendet erklären und suchen einen Zeltplatz.

Inzwischen hat sich aber die Struktur der Landschaft in soweit verändert, dass direkt neben der Straße das Meer beginnt und auf der anderen Seite die steile Felswand sofort da ist. Gut auf einem schmalen Streifen Geröll könnte man zwar campieren, aber doch bitte nur im aller äußersten Notfall. Wir schlängeln uns um Kurve und Kurve weiter die Küstenstraße entlang und haben schon fast die Hoffnung aufgegeben, irgendetwas Annehmbares zu finden, als wir schließlich ein paar Bäume erspähen. Beim näherkommen sind es nicht nur Bäume, sondern eine vielleicht zweihundert Meter breite Schlucht in den Felsen, auf deren Grund ein paar Häuser gebaut sind und sogar ein Campingplatz ist hier plötzlich ausgeschildert. Eine kleine Oase am Meer. Sogar ein Restaurant gibt es hier. Wir fragen ob wir das Zelt aufstellen dürfen und man weißt uns einen Platz zwischen verknurrten Bäumen, auf spärliche bewachsenem Grund, direkt am Meer zu. Ein Klo ohne Klopapier gibt es auch. Duschen aber nicht. Wir wollen wissen, was der Mann für die Nacht haben will und erwarten wie gestern Abend auch, ein Abwinken, worauf wir dann ein oder zwei Bier bestellt hätten und Quitt wären. Doch er meint, dass der Besitzer ungefähr 20 türkische Lira, also 10 Euro, verlangen könnte. Komisch. Warum nur so ungefähr und warum hat der Besitzer dieses Minizeltplatzes auch noch einen Sprecher der für ihn die Verhandlungen führt? Wir wittern etwas in der Luft und fragen, ob dass hier wirklich der ausgeschilderte Zeltplatz sei. Der Mann meint, es gebe um die Ecke noch einen Zeltplatz, ihm sei egal, wenn wir dorthin gehen würden. Wir prüfen es. Einen weiteren Minizeltplatz, mit ähnlicher spärlicher Ausstattung, finden wir vor. Der Preis? 20 türkische Lira. Ein Preiskartell! So wird das nichts mit dem EU-Beitritt der Türkei.

Wir gehen wieder zurück und bauen unser Zelt bei dem Sprecher des ersten Zeltplatzes auf. Der Untergrund ist zwar steinhart, aber die Lage ist echt schön. Direkt am Meer, geschützt unter Bäumen.  Im örtlichen Restaurant sitzt wieder der Sprecher und als wir ihn nach Preisen für Speisen oder Getränke hier fragen, faselt er weiter nur so undurchsichtiges Zeug: Er müsse erst jemanden fragen, wir sollen aber schon mal bestellen. Äußerst dubiös. Das geringste Risiko ist in unseren Augen eine Melone, die wir da rumliegen sehen. Der Preis? Muss erst erfragt werden. Als wir sie gegessen haben und nichts Weiteres bestellen wollen, kostet sie wie alles hier, 20 türkische Lira. 10 Euro für ‘ne Melone die er hier bestimmt irgendwo nur aus seinem Garten gepflückt hat. Wir fühlen uns übers Ohr gehauen und ziehen uns zum Zelt zurück. Wir sind einem Monopolisten aufgesessen, der zwei kleine Flächen Land als Zeltplätze deklariert hat um den Schein eines freien Konkurrenzmarktes zu waren. Wie MediaMarkt und Saturn, die beide zum Metrokonzern gehören und dennoch so tun, als ob sie beide einen brutalen Preiskampf gegeneinander führen würden. Hier kommt nun noch erschwerend hinzu, dass auch das Restaurant, als einzige Nahungsbeschaffungsstelle im Ort,  in der Hand des Monopolisten von Uçmakdere ist, welcher für alle seiner Leistungen den Einheitspreis von 20 türkischen Lira verlangt. Die kann er sich gerne morgen früh abholen. Oder er schickt seinen Sprecher, vermutlich auch nur eine Personalunion, aber wir werden nicht auf ihn warten. Wenn wir morgen früh alles abgebaut und verstaut haben, fahren wir los. Und morgen früh werden wir unser Zelt sehr, sehr, sehr leise abbauen und wir werden auch sehr, sehr, sehr früh los fahren, dass steht fest.

Wir setzen uns am Abend noch eine Weile ans Meer, praktischer Weise stehen da nämlich ein Tisch und zwei Stühle, und warten bis die Sonne untergegangen und es stockfinster geworden ist. Das Meer rauscht leise über die Kieselsteine des Strandes. Man sieht die Lichter einer Insel und der großen Containerschiffe die am Horizont vor Anker liegen. Der Mond steht hoch über uns und die Sterne erwachen langsam. Was war das heute für ein merkwürdiger Tag.

 

#29

Sonnabend, 13.09.2008

Uçmakdere - Tekirdag – Kumburgaz

126,7km

7:09 h

av. V = 17,7 km/h

↗ 1336 hm

↘ 1324 hm

av. P = 100 W

24°C - 28°C, bewölkt, ab Nachmittag heiter

n.V.

 

Einem hochpräzisem Spezialkommando gleich, packen wir blitzschnell und lautlos unser Lager zusammen und schieben die beladenen Fahrräder zurück auf die Straße, springen auf und knallen los. Es ist gegen 7 Uhr. Die kleine Siedlung des Monopolisten haben wir im Nu hinter uns gelassen und freuen uns diebisch, dass wir nun die sind, die am Ende lachen. Die 20 Yitel - so nennen wir die türkischen Lira auf Grund ihrer Abkürzung YTL liebevoll - für die Nacht haben wir gespart. Unsere Straße führt uns nun vom Meer weg und bei leichtem Anstieg in das grüne Tal hinein, welches zwischen den schroffen Felsen entstanden ist. Direkt an der Küste wäre es nicht weitergegangen, weil die Steilküste, wie der Name schon sagt, steil ab bis ins Meer hinein fällt und nicht einmal Raum für einen Weg lässt. Am Rande der Straßen wachsen wieder Feigenbäume und heute tragen sie auch endlich reichlich reife Früchte. Ich komme an Feigen nicht heran, aber Konrad schlägt sich erst einmal richtig den Wanzt mit diesen Früchten voll.

Nach nur etwa ein bis zwei Kilometern erreichen wir am Ende des Tales den eigentlichen Ort Uçmakdere. Unsere Nacht hatten wir quasi nur an dem Küstenvorposten des Dorfes verbracht, welches dann aber auch nicht viel größer ist. Ein paar Häuser mehr stehen hier, einige davon auch uralt und aus Holz, sowie einen kleiner Laden, mehr finden wir nicht vor. Die alten Männer des Dorfes sitzen auf einer Bank am Straßenrand, beobachten unsere Ankunft und rauchen sich die Lunge frei. Unser Blick fällt auf eine schmale Straße, die sich steil am Rand des Berges hinaufzieht. Ein kleines Wunder ist es schon, dass sich dort und bis hoch der Platz dafür gefunden hat. Ein Auto kommt zügig darauf ins Tal gebrettert und wirbelt eine große Staubwolke hinter sich auf. Unsere Angst, dass es ein Schwager des geprellten Zeltplatzbesitzers ist, der nun gerufen wurde uns zu suchen, verfliegt schnell als er sich nicht für uns interessiert, sondern seinen Platz bei den anderen Männern einnimmt und eine ganz ruhige Kugel schiebt.

Nachdem Frühstück will es unser Karma eben so, dass wir alternativlos die Schotterpiste hinauf müssen, aus der eben der Wagen hinab geklappert kam. Frühmorgendlich ist der Körper von der Nacht auf dem harten Untergrund noch eingerostet und das Marmeladenbrötchen noch nicht verdaut und in Wadenenergie umgewandelt worden und so fällt es schwer die Aussicht auf die urwüchsige Landschaft zu genießen. In langgezogenen Serpentinen geht es auf dem Schotterweg hochhinaus, begleitet werden wir nur von der Stromleitung, welche das Dorf mit der restlichen Zivilisation in Verbindung hält. Einmal kreuzen wir auch den Weg einer Ziegenherde die auf einem nur ihnen bekannten Pfad vom Meer hinauf kommen und nun klaglos weiter ziehen. Uns ist ganz anders zu Mute: Teilweise weißt unsere Piste solche Steigungen auf, dass das Hinterrad des Fahrrades trotz der schweren Gepäckträgertaschen durchdreht und wir nicht weiterkommen. Flüche hallen durch die einsame Landschaft zwischen Bergen und Meer. Serpentine um Serpentine geht es langsam hinauf. Die Luft ist diesig, der Horizont des Meeres ist unscharf und verschwimmt mit dem Himmel. Es ist durchaus nicht unangenehm, denn sengende Hitze würde die Sache hier und heute nicht leichter machen. Die Reifen knirschen über die groben Steine. Der Fahrradcomputer zeigt Geschwindigkeiten im einstelligen Bereich an, nur der Höhenmesser scheint unsere Leistung zu honorieren: 400 Meter sind wir nun schon über dem Meer. Manchmal geht es direkt neben der losen Piste hunderte Meter hinab in karge Schluchten, zerschellte Autowracks zeigen, dass man sich eher nicht im Grenzbereich der Geschwindigkeit bewegen sollte, aber wie gesagt: wir bleiben einstellig und zwar deutlich.

Hinter jeder Kurve erhoffen wir irgendetwas zusehen, was uns Freude macht: Eine Asphaltstraße vielleicht oder ein Dorf oder auch nur ein Schild, welches uns sagt, dass wir noch richtig sind und dass das alles hier Sinn macht. Hin und wieder erinnert mich Konrad an unsere Diskussion von gestern morgen, in welcher wir den weiteren Tourverlauf thematisierten. So mühsam und zäh hatte ich es tatsächlich nicht erwartet, denn schon bald ist es Mittag und wir sind auf der Karte immer noch zwischen unserem Startort und dem nächsten Dorf. Wer weiß wo wir jetzt fahren würden, wenn wir gestern der direkten Transitstraße gefolgt wären. Mit Sicherheit wäre Istanbul deutlich greifbarer, als hier und jetzt in dieser Pampa.  Auf der anderen Seite hat diese Gegend aber auch einen Charme und einen Reiz, den man ihr nicht abschreiben darf. Denn ständig fällt der Blick auf das blaue Meer, welches sich vom verstaubten Braun der Landmasse abhebt. Links und rechts der Piste ist unwegbares Gelände und immer wieder kann man etwas entdecken, wie zum Beispiel einen kleinen Canyon der in regenreicheren Jahreszeiten als Abfluss zum Meer dient oder einer Quelle die in ein Becken in Badewannenform fließt. Außerdem kommen nur sehr selten andere Verkehrsteilnehmer diese Piste entlang und wir haben ansonsten Ruhe.

Irgendwann erreichen wir Yeniköy, das zweite Dorf des Tages, welches geschützt in einer Senke liegt in der auch Grünes wächst. Die Häuser sind verschlafen und verwinkelt in die bergige Landschaft gebaut, sie haben kleine Gärten und Tiere. Einen Laden finden wir keinen. Ein paar mal geht es noch kurz auf und ab durchs bergige Hinterland, dann ist die Straße endlich wieder mit einem festen Asphaltband bezogen und führt in einer waldigen Abfahrt hinab ans Meer. Einmal noch begegnen wir einem Hund, bereiten uns mit Eisenkette und Pfefferspray fast schon routinemäßig auf dieses Aufeinandertreffen mit ihm vor. Als wir dann aber laut schreiend auf ihn zu stürzen, springt er über ein Mäuerchen davon und sucht das Weite. Er wird sich gewundert haben, was hier gerade vor sich ging, mit soviel Aggressivität ist ihm wohl noch niemand über den Weg gelaufen. Aber bei Hunden muss man – und wenn wir nur eine Lehre aus dieser Reise ziehen sollten – immer tierisch aufpassen und immer von der bösesten Bestie ausgehen.

Die Abfahrt führt uns zurück ans Meer und in den Küstenort Kumbağ. In Kumbağ fühlt man sich wieder wie in der Realität und zurück in der Welt wie man sie kennt. Ein Städtchen mit allen drum und dran, wie es überall in Südeuropa am Meer stehen könnte. Ein kleiner Fischereihafen ist da, ansonsten ein schöner Sandstrand und ansonsten hauptsächlich Zweckbauten. Erwähnenswert sind vielleicht die alten Holzhäuser, die typisch für diese Gegend sind oder besser: lange vor unserer Zeit typisch waren. Jetzt findet man sie noch vereinzelt, aber eigentlich nur im verfallenen Zustand. Dennoch kann man sich mit ein wenig Phantasie vorstellen, wie es hier vor einhundert Jahren ausgesehen haben könnte. In einer Zeit, in der hier das Osmanische Reich begann und bis Ägypten reichte. Jeder Ort war weitestgehend für sich allein und nur umständlich über den Landweg zu erreichen. Man hat das Gefühl die Megastadt Istanbul zieht seit je her alle Aufmerksamkeit auf sich, so dass kleine Städte in der “Nähe“ gar nicht erst versuchen, Besonderheiten zu entwickeln und sich selbst in den Fokus stellen. Egal ob Kumbağ, Barbaros oder Tekirdağ - wie die folgenden Städte, die wir an der Küste durchfuhren hießen – eine Stadt gleicht der nächsten und keine bleibt groß in der Erinnerung hängen und dabei ist letztgenannte über 100.000 Einwohner groß. Wir kommen von nun an zwar hügelig, aber dennoch zügig vorwärts. Verfahren wäre ein Ding der Unmöglichkeit, weil die Straße die Küstenorte recht direkt verbindet.

In Tekirdağ treffen wir auf die Transitstraße aus Keşan und folgen ihr ostwärts. Der Verkehr nimmt deutlich zu, wir fahren in den Orten auf Gehwegen und außerhalb auf dem Standstreifen, so dicht wie möglich an der Leitplanke. Die Rahmenbedingungen für die Fahrt am Marmarameer entlang, sind alles andere als schön: die Luft ist erfüllt mit Abgasen, die nur wenig Platz für Sauerstoffmoleküle zulassen, es ist laut und hektisch, monotoner und endloser Verkehr rattert an unserer rechten Seite vorbei, Müll liegt am Rand der Straße und dem Brachland bis hin zu den ersten Grundstücken, auf denen aber auch nur selten Grünes wächst. Wozu auch? Wir haben das Gefühl, dass das Bruttoinlandsprodukt der Türkei komplett am Rande dieser Straße erwirtschaftet und gleich wegtransportiert wird. Und dennoch sind wir guter Dinge, wir verspüren beide eine unheimliche Kraft, die uns voran treibt. Die Zahl der Kilometerangaben bis Istanbul, die uns ständig die blauen Schilder anzeigen, sinkt stetig. In Tekirdağ  sind es noch 150 Kilometer bis zum Ziel, ein halbe Stunde später sind es nur noch 135 Kilometer, im nächsten Ort sinkt die Zahl auf 130 Kilometer. Wie Eis in der Sonne schmilzt die Zahl. Wir sind auf der Zielgeraden und nichts und niemand und erstrecht keine Hügel kann uns jetzt mehr aufhalten. Selbst das permanente und wohl obligatorische Hupen der motorisierten Verkehrsteilnehmer wird von den Endorphinen in Fanfaren umgedeutet. Im Kopf beginnen nun Rechenspielchen, die an den Physikunterreicht der sechsten Klasse erinnern:

Wenn ich konstant 25 Kilometer pro Stunde fahren würde, was man im Moment als realistisch einzuschätzen ist, bräuchten wir noch: (130 geteilt durch 25) Stunden. Das sind dann also fünf Stunden und 5/25*60 Minuten… ach hätte mein Fahrradcomputer doch neben seinen unzähligen Funktionen, auch noch eine Taschenrechnerfunktion … 12 Minuten, es wären noch 5 Stunden und 12 Minuten. Vier Wochen sind wir bis hierher unterwegs gewesen und nun sind es nur noch läppische fünf Stunden und winzige zwölf Minuten reiner Fahrradfahrzeit bis das Ende von Europa aus eigener Muskelkraft heraus erreicht  ist. Der Gedanke ist noch unvorstellbar, aber traumhaft schön.  Gerade ist es 13 Uhr, wir würden also noch vor Sonnenuntergang in Istanbul ankommen, wenn wir einfach nur die gesamte Zeit eisern wie eine Dampflok durchtreten. Was seh‘ ich da? Ein blaues Schild! Konrad erkennt die weiße Zahlen immer viel eher als ich: „128“ ruft er, einem Countdown gleich. 128 Kilometer bis Istanbul. Und wieder geht es im Kopf los: 128 geteilt durch 25 sind… und so weiter. Zum Glück reicht es uns in dieser Modellrechnung, dass wir davon ausgehen können, dass keiner niemals bremst oder bergab schneller wird. Beschleunigungen, vielleicht auch noch ungleichmäßige, gehen hier jetzt nicht zu berechnen. Man muss sich auf die Sechstklassenphysik beschränken und merkt dabei, dass man eben doch fürs Leben und nicht für seine Lehrer, Eltern oder Noten lernt. Zumindest im Physikunterreicht der sechsten Klasse.

Ja, im Geiste haben wir nun die hinreichend begründete Hoffnung, dass wir heute Abend noch bis nach Istanbul kommen. Man muss es ja nicht bis in die Blaue Moschee schaffen. Es reicht ja, wenn man am Rande der Stadt einen Zeltplatz findet, wo das Lager aufschlagen werden kann und um dann seelenruhig mit der Gewissheit einzuschlafen, dass man es endlich geschafft hat. Am nächsten Tage schlendert man dann gemütlich wie ein Pauschaltourist in die nächste Straßenbahn und dreht bequem seine Sightseeing-Runden. Denn der Gedanke, dass man als schutzloser Radfahrer in diesem wahnsinnigen Verkehr bis ins Herz der Weltstadt hineinstoßen soll, ist schlicht nicht vorstellbar. Es soll schon Radreisende gegeben haben, welche sich die letzten zweihundert Kilometer komplett geschenkt haben und im Bus den Abschluss dieser langen und überwiegend grandiosen Reise fanden. Das wollen wir wahrlich nicht, aber diese Exit-Strategie, so unglaublich sie aus der Ferne auch scheinen mag, wird verständlich, wenn immer wieder unerwartet von rechts eine mehrspurige Zufahrt den Standstreifen – und unsere Schutzzone -  durchdringt und jäh beendet und wir somit plötzlich im Rausch des Verkehres hilflos umzingelt sind. Tonnenschwere Sattelzüge knallen links und rechts vorbei, PKWs wechseln blitzschnell in jede freie ihnen sich bietende Lücke, wild wird von allen Seiten gehupt und keine Sekunde hat man die Zeit innezuhalten um aus diesem ständigen Strom auszusteigen. Einmal macht sich ein Spaßvogel auf einem Beifahrersitz einen Jux und kickt mit seinem Fuß aus dem geöffnetem Fenster nach Konrads Kopf. Auch wenn er ihn nicht trifft und hoffentlich auch nicht treffen wollte, sitzt der Schreck tief in den Knochen. Man, was soll die Scheiße? Ich muss nicht erwähnen, dass wir auf diesem Teilstück der Strecke ständig die Helme trugen, auch wenn der Wind in den Haaren die einzig verbliebene Freude war. Die Helme fuhren wir zu 95 Prozent der Tour, auf unser Gepäck geschnallt, einfach spazieren. Aufgesetzt haben wir sie eigentlich nur, wenn es in rauschende Abfahrten ging, zum Beispiel am Troyan-Pass oder wir im Verkehr einer Großstadt, wie hier die schwächsten Teilnehmer waren.  Leider verschwindet das Auto mit dem Übeltäter schnell im Verkehr und so muss die Wut innerlich verpuffen. Fast, den als kurze Zeit später Konrad am Rand stehend von einem Auto angehupt wird, obwohl er sich schon wirklich so weit wie Möglich an die Leitplanke gedrückt hat, brüllt er den Autofahrer zusammen. Dieser indes weiß nicht wie im geschieht, da er eigentlich nur helfen wollte, wie sich später herausstellt. Gut und Böse sind dicht beieinander und nicht voneinander zu unterscheiden und so sind Kollateralschäden eben nicht zu vermeiden. Sorry.

Als wieder einmal ein blaues Schild die Entfernung nach Istanbul auf nur noch 85 Kilometer schätzt, beschließen wir uns eine Auszeit zu gönnen. Es ist schon 15 Uhr und wir haben mächtigen Kohldampf und außerdem wollen wir dem ganzen Chaos einfach mal entfliehen. In Marmaraereğlisi, einem Fischerei und Tourismusort, fahren wir ab und setzen uns an der Uferpromenade in ein Restaurant und speisen. Irgendwie haben wir das Gefühl, dass wir uns nun schon genügend gemüht haben und nun mal andere für uns arbeiten können. Dem Kellner des Ladens erstellen wir der Einfachheit halber einen Freischein: Er soll uns einfach irgendwas bringen. Ob das eine gute Idee war, wird sich später herausstellen. Jetzt sitzen wir einfach mal da, auf Stühlen, trinken Wasser aus Gläsern, genießen den Augenblick des Nichtstuns und nebenbei stöbern wir im Istanbul-Reiseführer.

Irgendwie haben wir uns auf die Ankunft kaum vorbereitet. In vier Tagen erst geht unser gebuchter Rückflug und was wir bis dahin machen und unternehmen, ist noch völlig Ungewiss. Wir erfahren so, dass das Netz des öffentlichen Personennahverkehrs in dieser Stadt recht kompliziert ist: Es gibt keine flächendeckendes Straßen- oder U-Bahn. Vielmehr muss man diese noch mit Minibussen, Sammeltaxis, Fähren und Vorortbahnen kombinieren.  Was durchaus eine Herausforderung darstellt, da man wohl kaum Pläne des Netzes vorfindet. Nun ja, wir werden es erleben. Als nächstes versuchen wir ein paar Worte Türkisch aus dem Anhang des Buches zu lernen. Den ersten Versuch starten wir indem wir den Kellner fragen wo die Moschee sei. Laut Buch heißt Moschee Cami. Und laut Ausspracheregeln, sollte wir mit Dschami eigentlich verstanden werden. Der Kellner versteht uns aber partout nicht und blickt uns nur achselzuckend an. Weitere Versuche scheitern auch kläglich und so geben wir ihm einfach unseren Fotoapparat und lassen uns hier beim einzigen Restaurantbesuch der Reise fotografieren. Jetzt denkt er, wir meinten genau das mit Dschami und braucht nicht länger zu grübeln. Wir indes beenden hiermit für uns das Kapitel des Türkisch Lernens.

Das Essen (verschiedene Fleischsorten, viel Salat und delikate Teigröllchen) war lecker und reichhaltig, der Preis am Ende auch okay und so ziehen wir nach einer Stunde weiter. Die Moschee fanden wir indes nicht, vielleicht gibt es hier auch keine, aber das ist sehr unwahrscheinlich, denn von der Straße aus sieht und hört man ständig Moscheen. Nur scheint sich kein Mensch dafür zu interessieren. Irgendwie hatte ich schon erwartet, dass ich den ein oder anderen Muslimen sehe, der alles stehen und liegen lässt und zur Moschee eilt oder sich einen Teppich schnappt und ihn gen Mekka ausrichtet. Aber nichts dergleichen passiert, stattdessen frönt jeder weiter seinem Tagewerk. Wir auch. Zurück in den Krieg der Europastraße 84. Hinter Silvri, etwa zwanzig Kilometer nach dem Mittagsmahl, verbindet sich diese Straße mit einer weiteren Europastraße und fusioniert zu einem Ekspres yol, was einer Schnellstraße entspricht.

In Silvri, wurde vor 1500 Jahren die Anastasiusmauer bis hinauf zum Schwarzen Meer gebaut. Sie ist eine der eine der größten Verteidigungsanlagen der Antike im kontinentalen Europa und durchaus mit dem Hadrianswall in Engalnd vergleichbar. Bis zu vier Meter hoch und bewacht durch einige Festungen war dieses Bollwerk. Leider fallen immer wieder Abschnitte dieser Mauer dem Straßenbau zum Opfer und so lesen wir zwar von ihr, doch bekommen sie nicht zu Gesicht. Wenn ich schreibe, dass wir hier in der Stadt Silvri sind, dann tue ich das, weil es auf der Karte so geschrieben steht. In der Realität sind wir die ganze Zeit in städtisch bebauten Gegenden unterwegs, die so ineinander verwachsen sind, dass man nicht weiß, wann man die eine Stadt verlässt und in die nächste hineinkommt. Auf der Schnellstraße macht es ja sowieso keinen Unterschied, da man einfach nur gerade aus fährt, wobei das Streckenprofil weiterhin hügelig dahin wellt.  

Wir halten inzwischen bereits die Augen nach einem Zeltplatz aus, da dass heute nichts mehr mit Istanbul wird. Zwar kann man vermutlich die Stadt schon sehen, irgendwo wird sie urplötzlich beginnen, wie all die anderen Städte, aber leichter wird das finden eines Zeltplatzes da sicher auch nicht und Nächtens durch die Straßen zu irren, stellen wir uns nicht wirklich entspannend vor. Laut Karte müssten hier überall Campingplätze sein, aber kein Schild weißt vor Ort daraufhin. Immer wieder fahren wir von der Schnellstraße ab und irren durch die Straßen, Gassen und Wege, finden aber nicht mal ein Plätzchen zum wildcampen. Die Menschen die wir fragen, sind freundlich wissen aber auch nur, dass gerade hier kein Zeltplatz ist. Nicht mal am Meer findet sich etwas, da überall bis ans Wasser gebaut worden ist. Auf einem Parkplatz der ebenfalls bis ans Wasser reicht, spricht uns ein deutsches Urlauberpaar an. Vage meinen sie sich daran erinnern zu können, dass in Kumburgaz, etwa zehn Kilometer weiter, ein Schild auf einen Zeltplatz weist.

Auf ihr Wort war Verlass und so erreichen wir zum Sonnenuntergang den Platz. Den ersten Eindruck schlucken wir einfach regungslos hinunter, denn außer Betonboden und schlecht und dicht zusammengezimmerten Bungalows ist nichts zusehen. Die Besitzerin dieser wenig einladenden “Anlage“ fragt sich auch, was wir hier wollen. Wir zeigen ihr das Zelt, sie überlegt hin und her und führt uns schließlich an den Strand. Von all dem was wir bis hierher gesehen haben, ist das auch mit Abstand der schönste Fleck, wenn auch bei weitem nicht so idyllisch, wie letzte Nacht: Bis zum Horizont ist am Meer entlang in beide Richtungen alles zugebaut. Wir bauen routiniert das Zelt auf und sind uns bewusst, dass es zum letzten Mal nur ein Provisorium für eine Nacht werden wird. Waschen wollen wir uns erst im Meer, aber als dann ein gebrauchtes Kondom angeschwappt kommt und die Füße ständig auf irgendwelche unidentifizierbare Gegenstände in der trüben Suppe treffen, wird der Plan verworfen und wir suchen die Duschen, nach denen wir die Frau noch gefragt hatten. Zwischen einer Mauer und dem Abwasserkanal führt der kurze Weg zu den Duschen an dessen Ende auch noch eine zerfleischte Taube von Fliegen belagert wird. Die Dusche an sich wird in ihrer Ekligkeit von nichts bisher gesehenem übertroffen. Dazu der Geruch von Urin, Exkrementen und dem Abwasserkanal. Den das Geschäft verrichtet man hier direkt unter Dusche, stehend oder hockend in ein Loch in den Boden hinein. Zu allem Überfluss kommt auch noch ein kleiner Junge um die Ecke und will von uns Geld fürs Duschen abkassieren. Wortlos führe ich ihn an der Taube vorbei zur Zeltplatz-Chefin, die wohl auch seine Mutter ist. Sie klärt die Sache zu unseren Gunsten. Das duschen lassen wir dann dennoch, ich möchte ja nicht der erste Europäer sein, der nach 500 Jahren wieder an der Pest erkrankt.  Und hier in diesem Loch braut sich ganz Gewiss eine solche Krankheit zusammen, auch wenn es hart klingen mag, waren hier Ratten gewiss nicht weit.

So endet der Tag mit einem komischen Gefühl in der Magengegend. Schlafen können wir dennoch sehr gut, wohl auch weil dieser Tag der bergigste unserer gesamten Tour war. Mit 1336 Höhenmetern, verweist er den Tag durchs Balkangebirge (1267 Höhenmeter) und den Tag hinter Prag durch Südböhmen und den Böhmerwald (1217 Höhenmeter) knapp auf die Plätze. Morgen erreichen wir das Ziel, bis Istanbul hinein sind es noch höchstens 50 Kilometer und dann ist es geschafft.

 

#30

Sonntag, 14.09.2008

Kumburgaz - Istanbul

63,8km

4:06 h

av. V = 15,5 km/h

↗ 478 hm

↘ 480 hm

av. P = 60 W

26°C - 35°C, Gegensturm, bewölkt, später sonnig

n.V.

 

In der Nacht hat sich die Stelle des Strandes, wo unser Zelt nun mal steht, zum Treffpunkt von einigen Nachtschwärmern entwickelt. Ganz wohl ist mir dieser Gedanke nicht gewesen, aber die Faulheit des Schlafes hat mich davon angehalten die Lage genauer zu sondieren. Erst gegen Morgen war deren Tag vorbei und nur noch einige leere Bier- und Weinflaschen blieben als Zeugen zurück. Keiner von uns beiden fand heute den Antrieb als erster Aufzustehen und langsam mit einpacken zu beginnen. An all den andern Tagen erhöhte so immer einer von uns beiden den Druck auf den jeweils anderen endlich aufzustehen. Heute war dem nicht so, wozu auch? Selbst, wenn wir bis Mittag weiterschlafen würden, wären die fünfzig Kilometer bis Istanbul recht schnell erledigt und man wäre da. Die Schnellstraße dahin hatte auch wenig Verlockendes zu bieten und so zog sich das erwachen lange hin. Im Zelt wurde es indes immer enger, da die Wände schlaff vor sich hin hingen. Nicht nur bei den nachtaktiven Jugendlichen ging es stürmisch zu, auch das Wetter hat sich dem angepasst und es ist ziemlich windig geworden, so dass die Heringe des Zeltes im losen Sand nicht länger Halt fanden.

Die Neugierde danach, ob die Fahrräder und mit ihnen alles andere noch ist, ließ den Tag dann auch für uns beginnen. Wir packten gemächlich unser Nachtlager ein und fuhren los. Auf dem Weg gestern standen am Straßenrand unzählig viele Melonenhändler, die von den Ladeflächen ihrer Melonenlaster riesige Berge der leckeren Früchte verkauften, heute fanden wir aber keine mehr. Schade, denn eine frische Melone zum Frühstück, wäre schon eine tolle Sache. So wir kauften wir unser Frühstück auf konventionelle Art und Weise in einem Laden und aßen es sogleich an der Schnellstraße auf Europaletten sitzend mit Blick auf die Klimaanlage des kleinen Supermarktes.

Der Wind kam heute aus Osten, blies also vor uns schon den Istanbulern um die Ohren. Beim Weiterfahren orientierten wir uns einzig an den Schildern die zum Atatürk Havalimanı, dem größten Flughafen der Stadt hinwiesen. Was wichtig war, da die einst so eindeutige Schnellstraße im Gewusel der Stadt aufzugehen schien. Immer wieder teilte sie sich in zwei, drei, vier Bahnen, die auf Brücken führen oder die Richtung änderten. Kaum vorstellbar dass hier irgendein Mensch tatsächlich durchsieht. An den Verkehr konnte man sich schon fast gewöhnen. Wichtig ist, dass man einfach immer Stur seine Linie durchzieht. So ist man auch für die Autofahrer viel berechenbarer. Sollte man dann durch eine große Einmündung wieder einmal in der Mitte der sechsspurigen Verkehrsader landen, ist es eher gefährlich, wenn man sich krampfhaft an den rechten Fahrbahnrand zurück kämpfen will. Irgendwann wird sich eine Lücke im ständigen Verkehrsstrom auftun und die krallt man sich dann. Absichtlich wird ein schon kein Mensch über den Haufen fahren. Man muss selbstbewusst ein Teil dieses Systems werden, man muss sich integrieren und darf kein Fremdkörper sein, der sich nur zaghaft und unsicher vorwärts tastet. Die anderen Verkehrsteilnehmer akzeptieren einen unter ihnen. Auch sollte man das ewig andauernde Rumgehupe einfach ignorieren, es  hat ja doch keine Bedeutung und stresst nur unnötig.

Der Wind schlägt konstant von vorne an, in Böen hat man an diesem Vormittag sogar Probleme überhaupt vorwärtszukommen. Irgendwie hat man das Gefühl, als sollte es einem heute nicht zu leicht gemacht werden. Zudem sind die Hügel des welligen Profils auch so kurz vor dem Ziel eine zusätzliche und verlässliche Bremse. Zweimal finden sich zwischen diesen Hügeln Täler die so tief liegen, dass Seen oder Buchten entstehen. Diese topografisch markanten Stellen bieten die einzig verlässliche Möglichkeit der Orientierung. Dazwischen ist das Straßenlabyrinth nur durch konsequentes Folgen des Flughafenzeichens zu lösen. Wann hier irgendwo die Stadt Istanbul begann, ist nicht zusagen. Ein Ortseingangsschild oder etwas Vergleichbares gibt es nicht. Vielleicht waren wir schon seit einer Stunde in der Stadt selber, man weiß es nicht. Kurz vor dem Flughafen, als man die startenden und landenden Flugzeuge schon groß sah, änderten wir die Navigationsstrategie, da unser Flughafen ja bald wegfallen würde. Wie beschlossen uns für am Ziel angekommen zu erklären und fuhren auf direktestem Wege zum Marmarameer. Was gar nicht so einfach war, da das von den Stadtplanern nicht vorgesehen war. Ein kleiner Scherz: Ganz sicher plante das hier kein Mensch, Istanbul in seiner Masse ist einfach so entstanden. Am Meer, so der Plan, wollten wir einen Zeltplatz suchen und dann nur noch mit einer Vorortbahn, deren Schienen wir hier sahen, ins Zentrum fahren.

Doch wir fanden weder einen Bahnhof noch einen Zeltplatz. Stattdessen wurden wir, wie Asterix und Obelix bei ihrem Versuch den Passierscheins A 38 zu erhalten, hin und her geschickt. Mal sollten wir die Straße in die eine Richtung fahren, dort angekommen, sagte man uns der Zeltplatz läge genau in der anderen Richtung und so ging es immer wieder hin und her. Um nicht wahnsinnig zu werden, den das ist ja das Ziel bei dieser Aufgabe von Julius Cäsar die er Asterix und Obelix stellt um zu prüfen, ob sie Götter seien, beenden wir das Spiel. An den Gleisen der Vorortbahn, die küstennah bis ins Zentrum führt, fahren wir immer weiter in die Stadt hinein. Wir halten die Augen zwar stets offen, finden aber keinen Zeltplatz. So erfragen wir nach und nach auch bei Hotels den Preis für zumindest eine erste Nacht. Dabei verlieren wir uns in dem schier unbegreiflichen Netz von Straßen sogar für kurze Zeit, eher durch einen Zufall fahren wir uns wenig später wieder über den Weg. Das wäre ja was geworden, wenn man sich in diesem Durcheinander wiederfinden will, man weiß ja selbst nicht wo man ist.

Die Preise pro Nacht lagen immer ungefähr bei einhundert Euro pro Person und das war dann doch ein wenig zu dick für uns. Und so fuhren wir immer weiter in die Stadt hinein, immer mit Blick zum Wasser, damit wir uns nicht radikal verfahren. Teilweise auf Fußwegen, dann wieder im Verkehr, es ist egal. Irgendwann gibt es zwischen der Küstenstraße, die im Übrigen nach John F. Kennedy benannt ist und dem Marmarameer eine Uferpromenade mit kleinen parkähnlichen Grünflächen auf die wir ausweichen können. Zwar kommen wir nur noch im Fußgängertempo vorwärts, denn es ist Sonntag und alle die nicht gerade Auto fahren und hupen, spazieren hier mit ihrer Familie entlang, aber dafür hat man auch mal einen Blick für alles andere, neben dem Verkehr. Wir fahren an alten Stadtmauern entlang, Angler fischen an jeder freien Stelle. Auf dem Marmarameer warten unzählig viele Schiffe – von ganz kleinen Yachten bis zu riesig großen Tankern – auf ihre Durchfahrt durch den Bosporus. Der Stress lässt nach und es macht richtig Spaß hier Rad zufahren. Gerne darf diese Promenade noch ein paar Kilometer weiter gehen. Als wir aber wieder einmal halten müssen, da wir nicht die einzigen sind, die sich hier erfreuen, fällt unser Blick auf die riesige Kuppel einer Moschee. Wir merkten sofort, dass das nicht irgendeine Moschee ist, dafür ist sie ein paar Nummer zu imposant. Schnell wühle ich nach dem Reiseführer um diese Moschee mit der auf dem Titelbild zu vergleichen. Und tatsächlich: Es ist die Sultan-Ahmed-Moschee, die man hierzulande besser unter dem Namen Blaue Moschee kennt. Wir sind im Herzen Istanbuls. Wir sind angekommen. Wir sind mit dem Fahrrad von Dresden bis hierher gefahren und nun stehen wir höchstens 500 Meter von dem Wahrzeichen dieser Weltmetropole entfernt da. Mehr da sein, geht nicht. 3388,6 Kilometer zeigt der Fahrradcomputer in diesem Moment an. Wir sind am Ziel. Es ist so ein überwältigendes Gefühl, dass dieser Traum wahr wird. Auch wenn man ja immer damit gerechnet hat, so ist der Augenblick dieser Ankunft dennoch einer der schönsten meines Lebens und ich bin unendlich dankbar ihn hier und jetzt erleben zu dürfen. Egal wie anstrengend und belastend einige Abschnitte dieser Tour waren, wir bereuen sie nicht, denn wir haben sie gemeinsam bewältigt und nun hat es sich voll und ganz gelohnt.

Nach dem wir einige Zeit den Moment genossen hatten und er uns vollends bewusst geworden ist, wollen wir aber irgendwo heimisch werden. Im Reiseführer stand, dass es im Stadtteil Sultanahmet, in dem wir nun auf einmal sind, Übernachtungsmöglichkeiten für jeden Geldbeutel gibt und auch ein paar preiswerte Hostels hier zu finden sind. Wir fahren also geradewegs in das historische Zentrum Istanbuls hinein. Schnell finden wir eine Menge kleiner Hotels, ich gehe einfach in das erstbeste hinein und frage nach einem freien Zimmer und dem Preis dafür. Leider seien sie schon voll, erklärt mir die überaus attraktive Frau am Tresen, ruft aber sofort über die Straße ihren Nachbarn herbei. Der besitzt, wie der Zufall es so will, ebenfalls eine Herberge. Von außen schon schick, wird es in ihr immer edler. Ich frage noch im hineintreten nach dem Preis für ein Zimmer, denn das hier ist wohl eher ein paar Nummer zu prächtig, doch der gute Mann lächelt nur und lobt mein Fahrrad. Er zieht mich förmlich durch Gänge und Zimmer immer tiefer in sein Hotel hinein. Weiße, glatte Marmorböden, darauf feine Teppiche, die ich kaum zu betreten wage, rote Samtvorhänge und riesige Spiegel mit Goldumrandung säumen den Weg. Am Ende der Vorführung, zeigt er mir sein Büro mit einem großen und edlen Holzschreibtisch, wie man ihn nur bei Staatsmännern erwarten würde. Überall stehen Antiquitäten, darunter ein exorbitanter Globus, der vermutlich mal Kolumbus gehört haben dürfte und Statuen, die durchaus aus Elfenbein geschnitzt sein könnten. Hinter ihm hängt ein mächtiges Ölgemälde mit dem Antlitz Atatürks. Um dem ganzen aber  noch die Spitze aufzusetzen, bittet er mich auf einen Thron, der drei Treppenstufen höher steht und vollkommen golden ist. Seine Lehne ist an die zwei Meter hoch und sein Bezug gleicht den roten Samtvorhängen. Erst weigere ich mich, doch er drückt mich äußerst freundlich, aber dennoch bestimmt auf diese erhabene Sitzmöglichkeit. So steige ich hinauf und setze mich schließlich bereitwillig hin, schaue in Augenhöhe auf Atatürk und mit ihm auf den Hotelbesitzer hinab. Kurz könnte man meinen, ich wäre der König, ach was sag ich: Der Sultan von Istanbul, der hier gerade in seinem Palast empfangen wurde. Von unten fragt mich indes der kleine Hotelbesitzer, wie viel ich denn für ein Zimmer bereit wäre zu zahlen. Ich schaue auf ihn hinab und erwidere, dass ich mir hier kein Zimmer leisten könne. Er meint daraufhin zu mir, dass er schon denkt, dass ich einer wäre, der sich hier ein Zimmer nehmen wird. Ich versuche weiterhin einen Preis zu erfahren, doch er lässt seinerseits nicht locker und möchte wissen, wie viel mir hier ein Zimmer wert wäre. Im Übrigen befinden wir uns gerade direkt neben der Blauen Moschee. Ich versuche es weiterhin diplomatisch, doch als wir uns im Kreis drehen, beende ich das Spiel und gebe meine Bereitschaft für höchstens 50€ pro Nacht bekannt. Fürs Doppelzimmer wohlgemerkt, denn Konrad darf ich auch als Sultan jetzt nicht vergessen. Dem Hotelbesitzer schläft das Gesicht fast ein, er wird sogar ein bisschen ungehalten, fast böse und schickt mich zur Tür hinaus. Nicht zu der, durch die wir hineinkamen, nein über seine feinen Teppiche darf ich nun nicht mehr schreiten. Direkt neben dem Thron ist der Ausgang in die Realität. Nicht einmal verabschieden kann ich mich, so schnell schreibt er mich ab. War das gerade eben wirklich passiert? Ein Märchen aus 1001 Nacht.

Auf der Gegenüberliegenden Seite der Gasse, stehe ich vor einem Holzhaus, was passender Weise Wooden House heißt und ebenfalls Gäste zu beherbergen denkt. Vorsichtig blicke hinein: Winzig klein ist das Foyer, kein Marmor, keine goldenen Spiegel und auch kein Thron. Vollends glücklich bin ich, als ich erst einmal vom Mann an der Rezeption ignoriert werde. Das ist genau meine Liga. Dann mal los. 40€ soll eine Nacht für uns beide zusammen kosten, inklusive ist ein Frühstück, Internet, soviel Tee wie man will und man darf die Dachterrasse mit nutzen. Wir sind immer noch direkt neben der Blauen Moschee. Ich versuche mich ein wenig im Handeln und so müssen wir zusammen nur 100 € für die drei Nächte bis zur Abreise bezahlen. Das dafür sofort und nur in Bar. Im Touristenviertel ist aber auch ein Geldautomat für die Kreditkarte nicht weit und so ist die Sache schneller geritzt als auf dem Thron eben noch gedacht.

Die Fahrräder können wir direkt neben dir Tür stellen und damit ist das Foyer mit seinen zwei mal zwei Metern auch fast schon ausgefüllt. Eine enge Treppe geht es im vollkommen aus Holz gebauten Haus hinauf in die zweite Etage, wo unser Zimmer liegt. Es ist klein, aber es hat zwei Betten und eine Tür und damit ist es perfekt. Der Blick aus dem Fenster richtet sich direkt auf das Hotel mit dem Thron, wenn man aber nach rechts blickt, sieht man eine verwinkelte Gasse entlang und über dem Ende die Blaue Moschee und einige ihrer sechs Minarette. Die Dachterrasse bietet einen tollen Blick über die Dächer des Altstadtviertels und den Bosporus bis hinüber auf die asiatische Seite von Istanbul. Dazu verweht ein frisches Lüftchen, die Hitze, die in den Gassen steht. Wir gehen nach einer kleinen Pause, eine Runde durch das Sultanahmet-Viertel spazieren. Gegenüber der Blauen Moschee liegt die Hagia Sofia





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